Schulfach hat zahlreiche Veränderungen hinter sich

Religionspädagoge: Religionsunterricht hat weiter wichtige Aufgaben

Veröffentlicht am 20.09.2025 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Münster ‐ In Zeiten gesellschaftlicher Spaltung hat der Religionsunterricht weiter Bedeutung, sagt der Religionspädagoge Clauß Peter Sajak im katholisch.de-Interview. Das hat auch mit einer entscheidenden inhaltlichen Veränderung zu tun.

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So lange es ihn gibt, so lange ist er umstritten: Der Religionsunterricht in der Schule. Gerade in einer Zeit, in der weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland kirchlich gebunden sind, steht er unter Beschuss. Dabei hat das Fach bereits ganz entscheidende Entwicklungen mitgemacht. Der Münsteraner Religionspädagoge Clauß Peter Sajak schreibt selbst an Schulbüchern mit und kennt den Religionsunterricht sowohl als akademischer wie aus praktischer Sicht. Im Interview spricht er über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Schulfachs.

Frage: Herr Sajak, warum gibt es eigentlich Religionsunterricht an staatlichen Schulen?

Sajak: Das Modell eines Religionsunterrichts in gemeinsamer Verantwortung von Kirche und Staat in der öffentlichen Schule geht auf die Weimarer Reichsverfassung zurück, 1949 wurde diese Konstruktion dann neben zahlreichen anderen Regelungen zum Staat-Kirche-Verhältnis ins Grundgesetz der Bundesrepublik übernommen. Der konfessionelle Religionsunterricht ist damals ein Teil des sogenannten Weimarer Schulkompromisses gewesen. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hatten vor allem die evangelischen Landeskirchen die Aufsicht über das Schulwesen, dann wurde das Schulregime auf den Staat übertragen. Unter dem Druck der Zentrumspartei und der DNVP räumte man dann aber den Kirchen das Recht ein, in der nun vom Staat beaufsichtigen Schule in eigener Verantwortung Religionsunterricht durchführen zu dürfen. Die Kirchen erhielten auch das Recht, Privatschulen innerhalb des öffentlichen Schulsystems zu errichten – auch dieser Artikel der Weimarer Reichsverfassung findet sich im Grundgesetz von 1949 wieder.

Frage: Wie sah denn der Religionsunterricht in der Weimarer Republik aus?

Sajak: Das Grundanliegen der Religionsgemeinschaften war es, im Raum der Schule einen Ort zu haben, an dem sie ihren Glauben an ihre Kirchenmitglieder weitergeben konnten. Bis in die 1960er Jahre war der Modus des Unterrichts deshalb die Katechese. Das nennen wir heute kerygmatischen, also verkündigenden Religionsunterricht. Es gab hier also ein Zusammenspiel von der Verkündigung im Gottesdienst und jener in der Schule, da wurde nicht differenziert. Die Modelle und Methoden waren identisch. In der Schule ging es im Rahmen eines materialkerygmatischen Ansatzes um die Vermittlung von Glaubensinhalten, also zum Beispiel durch den Katechismus, der in beiden großen Konfessionen jahrzehntelang in Auszügen auswendig gelernt werden musste. Diese religionspädagogische Tradition stammt aus dem Mittelalter und wurde im Zuge der Reformation vor allem von Martin Luther in dem Sinne weiterentwickelt, dass Fragen zum christlichen Glauben nun in deutscher Sprache beantwortet wurden. Das war damals ein innovativer Ansatz, der im Zuge der Konfessionalisierung auch von der katholischen Kirche aufgenommen wurde. Mit der Zeit wurde aus diesem eigentlich als Unterrichtsbuch gedachten Katechismus dann aber ein Dokument der Glaubenslehre, das keineswegs mehr adressatengerecht und lebensnah war – sondern vielmehr dogmatisch.  Erst in der Weimarer Republik kam es dann zu Aufbrüchen und Ausbrüchen aus diesem Schema.

Frage: Wie kam das?

Sajak: Das war ein Resultat der sogenannten Münchner Methode in den 1920er Jahren, eine reformpädagogische Initiative, in dessen Kontext später 1921 der Deutsche Katechetenverein hervorging. Parallel zur Liturgischen Bewegung und zum Aufbruch in der katholischen Jugendarbeit wurden nun die Katechismen wieder mit Blick auf die Lernenden und ihre Lernvoraussetzungen weiterentwickelt. So entstand zwischen den Weltkriegen eine neue Form der Religionsdidaktik. Dennoch: Der kerygmatische Religionsunterricht blieb Katechismus-Lernen. Das war bis zur Würzburger Synode in den 1970er Jahren der Standard.

Frage: Was hat sich dann geändert?

Sajak: Der Beschluss der Synode "Der Religionsunterricht in der Schule" (1974) war gewissermaßen revolutionär. In den 1970er Jahren stand im Rahmen der gesellschaftlichen Umbrüche auch der Religionsunterricht stark unter Druck, ganze Jahrgänge meldeten sich aus Religion ab. Ein "Spiegel"-Titel sah da schon das Ende des Religionsunterrichts. Von verschiedenen Seiten gab es erhebliche Kritik an der starken Rolle der Kirche in der Schule. Um diesem gesellschaftlichen Protest die Spitze zu nehmen, haben die Verantwortlichen der Synode überlegt, wie ein künftiger Religionsunterricht aussehen könnte. Dieser Religionsunterricht sollte nicht mehr in erster Linie den Interessen der Amtskirche dienen, sondern vielmehr ein Dienst an der Gesellschaft sein. 

Blick in den Synodensaal in Würzburg 1974.
Bild: ©KNA

Die Reform des Religionsunterrichts durch die Würzburger Synode sei ein "Geniestreich" gewesen, sagt Claus Peter Sajak.

Frage: Das heißt?

Sajak: Es ging nun nicht mehr um die Verkündigung einer Glaubenslehre, sondern darum, bei den Kindern und Jugendlichen den Sinn für Religion und Glaube etwas zu wecken. Zu Fragen nach Gott und Welt sollten die Bibel und die Tradition der Kirche als eine mögliche Antwort angeboten werden. Außerdem wurde der Glaube der Schülerinnen und Schülern nicht mehr vorausgesetzt, sondern diese sollten vielmehr in die Lage versetzt werden, selbstständig zu in religiösen Fragen zu entscheiden. Zudem sollten die Schülerinnen und Schüler durch diesen Religionsunterricht zu gesellschaftlichem Engagement motiviert werden. Es geht hier um einen Paradigmenwechsel: Glaubensverkündigung sollte nun in der Gemeinde geschehen, die religiöse Identitätsentwicklung der Lernenden stand dagegen im Mittelpunkt des Religionsunterrichts.

Frage: War das für die Kirche damals ein Verlust?

Sajak: Auf keinen Fall – das war vielmehr ein Geniestreich! In fast allen europäischen Ländern ist der Religionsunterricht mittlerweile verschwunden. Hierzulande diskutieren wir zwar über ihn, aber er ist an den Schulen sehr präsent. Es gibt keine politischen Anstrengungen, ihn abzuschaffen, weil er sich etabliert hat. Denn es ist inzwischen klar: Im Religionsunterricht geht es nicht um Mission, sondern darum, Religion als eine Ressource aus einer konfessionellen Perspektive zu erschließen. Das war eine kluge Entscheidung der Synode.

Frage: Nun ist der gesellschaftliche Rückhalt der Kirchen in der Gesellschaft in den vergangenen 50 Jahren ganz erheblich zusammengeschmolzen: Weniger Kirchenmitglieder, weniger Glaubenswissen. Braucht es da nicht heute einen neuen Ansatz für den Religionsunterricht?

Sajak: Ja, solche Ansätze gibt es bereits. Seit Ende der 2010er Jahre haben wir in der Religionsdidaktik eine lebendige Diskussion darüber, was die wachsende Konfessionslosigkeit und die schwindende Sozialisation der Kirchenmitglieder für den Religionsunterricht bedeutet. Da geht es um die Organisationsformen des Unterrichts bis hin zu didaktischen Detailfragen wie die Formulierung von Aufgabenstellungen. Die sollte man ja auch lösen können, wenn man kein Ministrant ist.

Frage: Fangen wir mit der Organisationsform an. Ist es sinnvoll, dass die Religionsgemeinschaften da weiter mitmischen?

Sajak: Ich bin absolut dafür, die Religionsgemeinschaften beim Religionsunterricht weiterhin mit im Boot zu haben. Das hat auf der einen Seite mit Qualitätssicherung zu tun, denn die Kirchen sind wichtige Partner bei der Konzeption des Unterrichts.  Auf der anderen Seite halte ich das politisch für wichtig. In den europäischen Ländern, wo der Religionsunterricht zu einem rein vom Staat verantworteten Fach geworden ist, wurde dieser Unterricht immer säkularer, immer mehr auf Ethik reduziert. Der Bereich Religion und Glaube wurde marginalisiert. Aber dafür ist Religion zu wichtig. Wenn wir dieses Thema ernst nehmen wollen, brauchen wir auch die Religionsgemeinschaften als politische Rückendeckung.

Kreuz im Klassenzimmer
Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

In Deutschland ist Religionslehre normaler Teil des Stundenplans. Das ist in Europa nicht überall so.

Frage: Was bedeuten die gesellschaftlichen Veränderungen inhaltlich?

Sajak: Auch da gibt es Entwicklungen: Die katholischen Bischöfe wie auch die evangelischen Landeskirchen haben ihre Leitlinien inzwischen überarbeitet. Beide Seiten haben in Sachen Dogmatik abgerüstet, es geht jetzt eher um die Vermittlung von Kernkompetenzen. Die Schülerinnen und Schüler sollen zudem die Vielfalt der Religionen kennen und verstehen lernen sowie sich mit Festen und Feiertagen verschiedener Traditionen vertraut machen. Das Spektrum ist also breiter geworden.

Frage: Da gibt es ja durchaus Pläne, etwa die Konfessionsgrenzen einzureißen und ökumenischen Religionsunterricht zu erteilen. Ist das sinnvoll oder bedeutet das nicht eher eine Verwässerung bei der Darstellung der eigenen Glaubensinhalte?

Sajak: Das ist die Gretchenfrage. In Hamburg oder Bremen etwa geht man den Weg, einen Religionsunterricht für alle oder einen unabhängig von den Kirchen konzipierten Religionskundeunterricht aufzusetzen. In den meisten anderen Bundesländern gibt es den klassischen konfessionellen Religionsunterricht noch. Es geht ja auch darum, dass man sich in seiner eigenen Konfession auskennt. Wir müssen aber auch den Konfessionsfremden in den Kursen Perspektiven eröffnen. Und es ist ja toll, dass Kinder in den katholischen Religionsunterricht kommen wollen, obwohl sie nicht katholisch sind! Beide Aspekte zusammenzubringen, ist ziemlich schwierig. Ich glaube aber, dass das möglich ist. Wir brauchen beides: Zu wissen, wer man selbst ist, aber auch was es ausmacht, evangelisch zu sein, und was es mit dem Judentum und dem Islam auf sich hat.

Frage: Wie kann das didaktisch funktionieren?

Sajak: Ein konfessioneller Religionsunterricht muss zuerst die eigene Perspektive eröffnen. Von dort aus wird ein Bogen zu anderen Perspektiven geschlagen. Das geht sehr gut! Ich erlebe in der Lehrerbildung ein großes Interesse der Studierenden verschiedenen Glaubens an den Überzeugungen der jeweils anderen. Wir machen das oft an gelebter Religion fest, denn da gibt es unfassbar viele Überschneidungen, wenn es etwa um Gebetspraktiken, Liturgien oder Musik geht. Ohne die eigene Perspektive aufzugeben, kann das enorm bereichern und den Blick weiten.

Frage: Ist das auch ein Zeichen an eine Gesellschaft mit wachsenden Spaltungen?

Sajak: Unbedingt. Wir haben eine Bewegung weg von den Kirchen, aber im öffentlichen Diskurs gewinnt die Religion an Gewicht. Weltweit wird Religion bedeutsamer, auch in der Politik und Gesellschaft. Deshalb ist es wichtig, in der Schule den eigenen Glauben zu reflektieren und den der anderen besser kennenzulernen.

Von Christoph Paul Hartmann