Historiker: Neue Akzente bei Papst Leo XIV. noch nicht erkennbar
Für den Kirchenhistoriker Jörg Ernesti ist Papst Leo XIV. theologisch gesehen noch "eine Blackbox". "Wir wissen nicht, ob er konservative Beschlüsse fällen wird oder eher progressive", erklärte er am Freitag in der Deutschlandfunk-Sendung "Tag für Tag". Aktuell arbeite der neue Papst mit der Bestätigung und Vertiefung des Programms der Weltsynode noch die Agenda von Papst Franziskus ab. Doch: "Ich erkenne in seinen öffentlichen Äußerungen jetzt noch keine ganz klaren neuen Akzente."
Ernesti hat eine Biografie über Papst Leo XIII. geschrieben. Den neuen Papst sieht er daher noch mit der Brille seines Namensvorgängers. Der Theologe erklärt das historische Vorbild, das Robert Prevost sich mit seiner Papst-Namenswahl ausgesucht hat: Politisch habe Leo XIII. die Chance ergriffen, den Heiligen Stuhl nach der Auflösung des Kirchenstaates neu zu positionieren, sagt Ernesti. So sei der Heilige Stuhl in der Lage gewesen, in der Außenpolitik neutral aufzutreten und als überparteilicher Akteur tätig zu werden.
"Ich sehe in ihm den Begründer der modernen vatikanischen Friedens- und Außenpolitik", sagte der Theologe. Er habe gleich elfmal versucht, in internationalen Konflikten zwischen Staaten zu vermitteln. Mit seiner wiederholten Betonung des Friedens stelle sich Leo XIV. deutlich in die Nachfolge von Leo XIII., meint der Kirchenhistoriker.
Umgang mit sozialen Revolutionen
Begründet habe Leo XIV. seine Namenswahl allerdings anders: mit der Sozialenzyklika "Rerum novarum". Diese habe die Grundprinzipien der katholischen Soziallehre – Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität – formuliert. Die "vielleicht folgenreichste Enzyklika in der Geschichte der Enzykliken" sei damals "eingeschlagen wie eine Bombe", berichtet Ernesti. So wie Leo XIII. sich mit der ersten sozialen Frage der Industrialisierung konfrontiert gesehen habe, seien die Menschen heute mit der zweiten industriellen Revolution, "der KI-Revolution" konfrontiert.
Leo XIII. sei außerdem der erste Papst gewesen, der die Möglichkeiten der modernen Kommunikationsmittel gesehen habe. In ersten Filmen, Stimmaufnahmen, Interviews und mit vielen Fotos habe er seine Botschaft an die Öffentlichkeit gebracht. "Ich sehe in ihm den Begründer des Medienpapsttums", sagte Ernesti.
Laut dem Kirchenhistoriker war Leo XIII. aber nicht nur progressiv. So habe er den sogenannten Amerikanismus verurteilt. Ende des 19. Jahrhunderts seien die amerikanischen Katholiken gegenüber der Demokratie und der Trennung von Staat und Kirche aufgeschlossen gewesen. Das habe Leo XIII. klar abgelehnt. "Also, theologisch ist das sicher kein progressiver Kopf gewesen – aber sozialethisch, außenpolitisch schon", so Ernesti. (KNA)
