"Meine Tochter hat vor ihrem Tod zu mir gesagt: 'Ich gehe ins Licht'"

Es ist der 28. November 2023, Kerstin Molchs 49. Geburtstag, als ihr und ihren Eltern klar wird: Dieses Weihnachten wird ihr letztes gemeinsames Weihnachten sein, Silvester der letzte gemeinsame Jahreswechsel. An diesem Tag kommt die Nachricht, dass Kerstin Molchs Brustkrebs ins Gehirn gestreut hat. "Kerstin hat sofort gewusst: Das ist mein Todesurteil", erinnert sich ihre Mutter Brigitte. Noch gut zwei Monate hatte die Familie zusammen, am 3. Februar 2024 starb Kerstin im Bruder-Gerhard-Hospiz in der oberpfälzischen Stadt Schwandorf.
Der große Schock
Es ist neben aller Angst und Verzweiflung auch eine Zeit, die vor allem Mutter und Tochter nutzen, um sich mit dem bevorstehenden Tod auseinanderzusetzen. Zunächst war da einmal der große Schock. "Draußen ging das normale Leben weiter, die Menschen gingen ihrem Alltag nach, während ich wusste, meine Tochter muss sterben. Das habe ich nicht zusammengebracht: Wie kann das sein?", fragt Mutter Brigitte. Für sie steht die Welt still. Tränen und Verzweiflung begleiten diese Zeit. Brigitte Molch leidet unter Angstzuständen, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Unruhe.
Kerstin Molch auf einem Bild, das ihre Mutter Brigitte zur Verfügung gestellt hat.
Solche Reaktionsmuster sind Diakon Wolfgang Holzschuh, Leiter der Fachstelle Trauerpastoral im Bistum Regensburg, wohl bekannt. Seine Erfahrung zeigt: Wenn sich der Tod eines lieben Menschen über längere Zeit ankündigt, setzt die Trauer nicht erst mit dem Tod ein, sondern beginnt schon viel früher: "Schon der große Schrecken nach der aussichtslosen Diagnose, dieses Gefühl neben sich zu stehen, ist eine erste Trauerreaktion". Für dieses Phänomen gibt es sogar einen Fachbegriff: "antizipatorische", also vorweggenommene Trauer. "Wenn alle Beteiligten dazu bereit sind, kann es eine große Hilfe und Stütze sein, sich noch zu Lebzeiten mit dem Tod auseinanderzusetzen", so Holzschuh.
Jeder Mensch trauert anders
Laut der Krankenkasse AOK kann es sogar sein, dass Menschen, die sich aktiv mit dem bevorstehenden Tod eines lieben Angehörigen beschäftigt haben, auch nach dem Tod besser durch die Trauer kommen. "Die Initiative, darüber zu sprechen, kommt oft von den Sterbenden selbst. Sie haben die Situation mitunter klarer vor Augen als Angehörige, die vollends mit der Pflege beschäftigt sind oder das Unausweichliche so lang als möglich verdrängen", sagt Holzschuh. Gleichzeitig betont er: "Jeder Mensch trauert anders. Es gibt auch solche, die nicht offen sprechen wollen. Und das gilt es unbedingt zu respektieren".
„Es gibt keine Schmerzprophylaxe – erst im eigenen Erleben wird spürbar, was Verlust bedeutet. Der Weg führt mitten hindurch.“
Kerstin Molch und ihre Mutter sprechen offen über den Tod. "Ich habe eine Ausbildung für die Hospizarbeit durchlaufen, war schon damals in der Sterbebegleitung aktiv. Von daher war mir das Thema vertraut. Das hat mir geholfen, als ich wusste, die letzte gemeinsame Zeit mit Kerstin beginnt", erzählt Brigitte Molch, die heute 74 Jahre alt ist. Ihre Tochter bekommt in den letzten Monaten ihres Lebens eine intensive palliative Begleitung. Sie gibt ihren Eltern starke Botschaften mit auf den Weg. "Zu mir sagte sie: Das Schlimmste wäre, wenn Du aufgibst und nichts mehr machst, wenn ich nicht mehr da bin", sagt Brigitte Molch. Das ist für die verwaiste Mutter heute unbedingter Auftrag. Mit viel Energie engagiert sie sich in der Trauer- und Seniorenarbeit. Kerstin Molchs Vater trauert introvertiert, spricht wenig über die schwierige Situation. Darum wissend, bat die Tochter einen befreundeten Priester, sich nach ihrem Tod um den Vater zu kümmern. Kerstin will stark sein, um ihre Eltern nicht noch weiter zu belasten – so der Eindruck derer, die sie pflegen.
Struktur hilft
Für Menschen, die in einer ähnlichen Situation stecken, hat Brigitte Molch vor allem diesen einen Rat: "Das Wichtigste ist, Menschen an der Seite zu haben, die für einen da sind, damit man das nicht alles allein tragen und ertragen muss". Dieser Aspekt ist auch für Trauerseelsorger Wolfgang Holzschuh zentral: "Der Austausch mit Freunden und Seelsorgenden ist ebenso eine große Hilfe, wie Verantwortung zu teilen mit Pflegediensten, Ärzten und dem Palliativ- und Hospizdienst." Auch eine gute Organisation und Struktur entlastet: Eine ausgefüllte Pflegevollmacht und vorbereitete Patientenverfügung bringen für alle Beteiligten Klarheit, ein niedergeschriebenes Testament beugt Streitigkeiten über das Erbe vor.
Mit diesen Hilfen, so argumentiert Holzschuh, entstehen Freiräume für das Wesentliche. Sterbende und ihre Familien können noch bestehende Streitigkeiten aus dem Weg räumen und versöhnt Abschied nehmen. Menschen schauen bewusst und dankbar auf die gemeinsame Zeit zurück, teilen Erinnerungen, sagen, wie sehr sie sich gegenseitig lieben. Wenn sie im Glauben verwurzelt sind, können sie sich gegenseitig segnen. Das machten auch Wolfgang Holzschuh und sein Vater, als der vor einigen Jahren mit 87 Jahren starb: "Mein Vater hatte noch letzte Dinge zu regeln. Er sorgte sich um die Zukunft meiner Mutter und war lange unruhig. Das änderte sich, als ich ihm sagte: Du kannst gehen, wir kümmern uns um Mama. Dann konnte er loslassen."
Diakon Wolfgang Holzschuh, Leiter der Fachstelle Trauerpastoral im Bistum Regensburg
Bei allem Vorbereiten ist aber auch klar: Die Angehörigen können sich die Trauer nicht ersparen. "Es gibt keine Schmerzprophylaxe – erst im eigenen Erleben wird spürbar, was Verlust bedeutet. Der Weg führt mitten hindurch", fasst es Holzschuh zusammen. Neben der Trauer gibt es plötzlich auch schmerzhafte Themen, die die Angehörigen selbst betreffen: Schuldgefühle, vielleicht nicht alle Wünsche des Sterbenden umzusetzen zu können oder zu wollen, ein Alltag, der sich gerade für pflegende Angehörige mit dem Tod komplett ändern wird. "Wenn die eigenen Eltern sterben, dann kommt der Gedanke auf: ‚Wir sind die nächsten‘", sagt Wolfgang Holzschuh.
Hand halten, Lippen abtupfen
Besonders intensiv sind für viele die letzten Wochen, wenn der Sterbeprozess voranschreitet. Dann geht es oft nur noch um basale Kommunikation: Hand halten, Lippen abtupfen, Lieblingsmusik hören oder singen, dasein. "Das bekommen viele Sterbende sehr genau mit und es kann sie tragen", weiß Wolfgang Holzschuh. Brigitte Molch hat sich für diese Zeit ein Bett in das Zimmer ihrer Tochter im Hospiz stellen lassen. In den letzten Lebenstagen war Kerstin Molch fast blind, teils gelähmt, musste gelagert werden, es fiel ihr schwer zu sprechen. "Wenn das Leiden zu groß wird, dann setzt ein neues Denken ein: Lieber Gott, lass sie einschlafen. Das habe ich wie einen roten Faden bei so vielen Angehörigen erlebt", erklärt ihre Mutter. Kerstin hatte zwar Angst, dass sie in ihren letzten Minuten vielleicht keine Luft mehr bekommen könnte. Aber Angst vor dem Tod an sich hatte sie nicht, sagt Brigitte Molch, der bei der Trauer auch ihr Glaube sehr geholfen hat: "Sie hat zu mir gesagt, ich gehe ins Licht. Und daran glaube ich ganz fest".