Warum das Christentum für antike Städter so attraktiv war
Korinth, Ephesus, Philippi: Es waren gerade die Metropolen des Mittelmeerraums, in denen sich das frühe Christentum ausbreiten konnte und erstmals greifbar war. Von dort aus drang die Jesusbewegung bis ins Zentrum des Römischen Reichs vor. Welche unterschiedlichen, begünstigenden Voraussetzungen gab es dafür in den verschiedenen Städten? Und warum hat das Christentum – anders als andere Kulte – die Antike überlebt? Ein Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitäten Bonn und Bern hat sich in einem Forschungsprojekt damit beschäftigt und dafür die antiken Stätten bereist. Herausgekommen ist unter anderem eine Filmreihe, die aktuell veröffentlicht wird. Jan Rüggemeier, Neutestamentler an der Fakultät für Evangelische Theologie in Bonn, spricht im Interview über das Projekt – und das, was es an Neuem zu Tage gebracht hat.
Frage: Professor Rüggemeier, die Verbreitung des Christentums in der Antike ist breit erforscht. Was kann man dem Ganzen überhaupt noch an neuen Aspekten hinzufügen, Herr Rüggemeier?
Rüggemeier: Es stimmt, dass diese Thematik schon sehr lange im Fokus ist. Schon der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack hat Anfang des letzten Jahrhunderts gesagt, dass das werdende Christentum eine Städtereligion war. Die Grundthese stimmt, dass die Urbanität ihm zum Durchbruch verholfen hat. Städtische Kontexte im Mittelmeerraum waren jedoch sehr unterschiedlich – und Städte wie Ephesus und Rom, die wirklich Großstädte der damaligen Zeit waren, nicht eins zu eins zu vergleichen mit Philippi, das eine römische Kolonie war. In unserer Forschung und unserer Filmserie konzentrieren wir uns stark auf die lokalen Spezifika – das unterscheidet uns von bisheriger Forschung.
Frage: Kommen wir gleich zur Kernfrage: Wie konnte ausgerechnet die Botschaft eines galiläischen Wanderpredigers, der dazu noch einen so schändlichen Tod starb, gerade im städtischen Milieu so verfangen?
Rüggemeier: Wir sehen für die damalige Zeit eine starke Tendenz zur Individualisierung – auch bei Jenseitshoffnungen. Das Christentum formuliert eine besonders griffige Jenseitserwartung mit klarer Heilszusage. Das verfängt vor allem in städtischen Milieus, in denen traditionelle Religiosität eher diffuse Vorstellungen kennt. Auf vielen Grabinschriften klagen Verstorbene, dass ihr schönes Leben vorbei sei. Hier bietet das christliche Paradies eine deutlich positivere und konkretere Perspektive.
Frage: Andererseits prägt das Christentum eine ausgeprägte Liebes- und Empathielehre. Wie entscheidend ist das?
Rüggemeier: Das ist im antiken Vergleich sicherlich ihr Alleinstellungsmerkmal. Während etwa eine Philosophie wie die Stoa auf Apathie setzt, fordert das Christentum Mitgefühl mit Leidenden – auch außerhalb der eigenen Gemeinschaft. Das führt früh zu konkreten Sozialmaßnahmen. Spätestens in den Pandemien des 2. und 3. Jahrhunderts fällt auf, dass Christen im Gegensatz zu vielen Ärzten in den Städten bleiben, Kranke versorgen und dabei sogar eigene Krankheit oder den Tod in Kauf nehmen. Für damalige Zeitgenossen, die im hellenistisch-römischen Gesellschaftssystem sozialisiert wurden, hatte das alles durchaus einen subversiven Charakter.
Das Team des Forschungsprojekts "Ecclesiae" in einem antiken Wohnhaus in Ostia.
Frage: Sie sprachen von Unterschieden in den Städten. Was hat zum Beispiel den Aufstieg in einer Stadt wie Philippi begünstigt?
Rüggemeier: In Philippi gab es eine große Durchdringung durch das römische Herrschaftssystem. Unter den Einwohnern gab es die Vorstellung, dass ein römischer Bürger auf einer Karriereleiter aufsteigt. Im Kontrast dazu schreibt Paulus im Brief an die Gemeinde von Philippi seinen berühmten Hymnus: ein Gott, der zu den Menschen herabsteigt und sich bis in den Tod erniedrigt. Das ist ein starkes Kontrastmoment zu römischen Vorstellungen, ein anderes Wertesystem. Es gibt die großen Handelsströme, über die Menschen – nicht nur Händler, sondern allgemein Migranten – mit ihren Überzeugungen in die Stadt kommen, es gibt eine große Vielfalt an Kulturen und eine große Offenheit gegenüber neuen religiösen Überzeugungen.
Frage: Gibt es auch so etwas wie "infrastrukturelle" Wachstumsfaktoren, die bisher eher weniger präsent sind?
Rüggemeier: Wenn wir auf Rom schauen: Parallel zum entstehenden Christentum haben wir einen Buchmarkt, der sich entwickelt. Es gibt Verleger, die so etwas wie Copyshops betreiben: Man kann in einen Laden gehen und eine Schrift vervielfältigen lassen, die zum Teil auch vorrätig ist. Auch der Brief von Paulus an die Gemeinde in Rom wurde vervielfältigt – dass die ersten Christusgläubigen diese Texte selbst kopiert haben, ist unwahrscheinlich. Da wird man auf die entsprechende Infrastruktur zurückgegriffen haben. Gerade auch, weil im frühen Christentum generell sehr viel geschrieben wurde. Somit konnte diese Bewegung sehr von einem aufkommenden Buchmarkt profitieren.
Frage: Der Glaube hat sich rasch über alle Schichten hinweg verbreitet. Inwiefern half da auch das städtische Milieu?
Rüggemeier: Wir haben es hauptsächlich zunächst mit Personen zu tun, die – wie Priska und Aquila im Neuen Testament – Vertreter einer Mittelschicht sind: Menschen mit einem Handwerksbetrieb oder einem kleinen Gewerbe. Im urbanen Umfeld traf man sich pragmatisch in Werkstätten, Apartments oder Mietskasernen und erreichte je nach Ort unterschiedliche Milieus. Gerade Mietskasernen boten Zugang zu breiten Bevölkerungsschichten – von wohlhabenden Bewohnerinnen der unteren Etagen bis zu Familien, die oben auf wenigen Quadratmetern lebten. Es war keine Gruppierung, die irgendwie im Verborgenen operierte, sondern sie war in die breite Stadtgesellschaft eingezeichnet. Weil sich das werdende Christentum dort versammelte, wo das Leben pulsierte, konnte es in die Gesellschaft hineinwirken. Das zeigen auch die entstandenen Texte, die unterschiedliche Milieus und Bildungsniveaus ansprechen.
Jan Rüggemeier ist Juniorprofessor für Neues Testament mit Schwerpunkt griechisch-römische Antike an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Er ist Co-Leiter des Projekts.
Frage: Wie trugen ausgerechnet Verfolgungserzählungen und Märtyrertraditionen zur Stärkung der Bewegung bei?
Rüggemeier: Heutzutage sind wir etwas zurückhaltender, ob die "großen Christenverfolgungen" tatsächlich dieses Ausmaß hatten. Die Erzählungen darüber sind möglicherweise Rückprojektionen des zweiten Jahrhunderts auf das erste Jahrhundert. Verfolgungen gab es immer dann, wenn es einen größeren Aufruhr gegeben hat und die Staatsmacht eingreifen musste. Sonst liefen die Christen eher unter dem Radar. Aber natürlich gab es Martyrien – und es kommt gar nicht auf die Zahl an, sondern auf ihre Ausstrahlungskraft. Es geht um Authentizität: Jemand, der bereit ist, für seinen eigenen Glauben sein Leben zu lassen, zeigt, was für ihn da dranhängt. Das wurde wiederum literarisch aufgegriffen – bis hin dazu, dass Rom mit Petrus und Paulus zwei Märtyrer als wesentliche Identifikationsfiguren hat, von denen die dortige Gemeinde ihre Autorität ableitet.
Frage: Ein wachsendes Christentum ist das eine. Gleichzeitig sind antike Kulte im Laufe der Zeit komplett verschwunden. Aus gläubiger Perspektive kann man vermutlich leicht die Antwort geben, warum das Christentum sich durchgesetzt hat. Aber was sind entscheidende "harte" Faktoren?
Rüggemeier: Auch als Wissenschaftler können wir nicht alles bis ins Kleinste ergründen. Manches bleibt natürlich ein Mysterium. Was man aber wissenschaftlich beschreiben kann: Der Christusglaube bringt vieles zusammen, was sich in den diversen Kulten eher ausdifferenziert. Es bietet auch eine Vereinfachung: Man hat einen Gott, der für Heilung, aber auch das Heil im Jenseits zuständig ist. Zudem ist die christliche Botschaft unglaublich gut darin, sich immer wieder neu an wandelnde gesellschaftliche Rahmenbedingungen in den Städten anzupassen.
Das Forschungsteam diskutiert Inschriftenbefunde in Korinth.
Frage: Woran wird das deutlich?
Rüggemeier: Es gibt zu der damaligen Zeit in den Städten philosophische Lebensratgeber mit ganz klaren, kurzen Maximen, wie sich ein Leben gelingend gestalten lässt. Auf diesem Markt hatte auch das werdende Christentum etwas anzubieten. Die Paulusbriefe enthalten im zweiten Teil immer ethische Reflexionen, die eine unglaubliche Konkretion im Hinblick auf das städtische Leben haben. Sie bieten sozusagen eine situative Orientierung. Die entsteht auch in einem kommunikativen Kotext, weil die Gläubigen vor Ort Fragen stellen – und Paulus darauf antwortet. Diese Vorstellungen haben eine hohe Adaptivität. Nehmen wir die Leib-Metapher von Paulus: Dieses Bild ist in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder auch akzentuiert und auf verschiedene Bereiche angepasst worden. Mal wurde sie genutzt, um das Mitleiden mit verfolgten Geschwistern zu thematisieren. Mal wurde sie abgewandelt, um die vermögenden Gemeindeglieder zur sozialen Unterstützung zu bewegen.
Frage: Forschung soll ja immer dem Heute dienen. Was lernen Sie aus den Erkenntnisses des Projekts für die heutige Situation des Christentums?
Rüggemeier: Es ist wirklich markant, dass das Christentum heute nicht mehr unbedingt in den Städten punktet. Was ich sehr faszinierend finde: Dass entstehende Christentum war in gewisser Weise Medienavantgarde. Es hat nicht nur am Buchmarkt partizipier und die Entwicklung von der Schriftrolle hin zum Kodex mitverfolgt, sondern maßgeblich geprägt, weil damit Schriften transportabler, leichter zu kommentieren und aufzufinden waren. Das Christentum hat dieses Medium in den ersten Jahrhunderten perfektioniert. Ich würde mir wünschen, dass das Christentum heute Vergleichbares tut. Vielleicht passt daher ein Filmprojekt ganz gut.
Filme zum Forschungsprojekt
Auf dem YouTube-Kanal des Projekts "Ecclesiae" finden Sie die bislang veröffentlichten Filme. Dort gibt es auch weitere Informationen und weiterführende Links zur Forschung.
