Gaudium et spes – Warum der Konzilstext nach 60 Jahren noch fasziniert

Als die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils am 7. Dezember 1965 verabschiedet wurde, erregte sie weltweit Aufsehen – und zwar nicht nur bei katholischen Gläubigen, sondern auch bei evangelischen Christinnen und Christen, Mitgliedern der Ostkirchen und vielen Angehörigen nichtchristlicher Religionen. Nach wie vor gelingt es dem Text, Menschen für sein Grundanliegen – den Aufbau einer gerechteren und friedlicheren Welt – zu begeistern. 2023 nannte der evangelische Theologe Ulrich H. J. Körtner Gaudium et spes einen "großen Text der Christenheit" und nahm ihn in die gleichnamige Schriftenreihe auf. Wie kommt es, dass dieses Dokument auch heute noch die Menschen fasziniert? Warum gehört es zu den am meisten zitierten und rezipierten Texten des II. Vatikanums? Worin liegt fast zwei Generationen später seine scheinbar immer noch ungebrochene Relevanz?
Gaudium et spes ist das sympathische Gesicht der katholischen Kirche. Das war in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts so und gilt auch heute noch. Schon der erste Satz ließ die Welt aufhorchen: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände." (GS 1) Ein lehramtlicher Text, der nicht mit dem Hinweis auf Offenbarung und Tradition, Kirchenväter, Scholastik und Naturrecht beginnt, sondern von Gefühlen spricht, der mit wenigen Worten das Lebensgefühl des modernen Menschen auf den Punkt bringt, das war neu.
Gaudium et spes zeigt schon im ersten Satz eine Gemeinschaft von Christinnen und Christen, die sich auf die Menschen ihrer Zeit einlassen, die sich einfühlen können und mitfühlen wollen, die aus dem Wissen um die tiefe Verbundenheit aller Menschen eine Haltung der Zuwendung und Solidarität entwickeln, die tiefe Beziehungen aufbauen und damit das Fundament für eine menschlichere Welt legen.
Darum steht Gaudium et Spes für eine moderne Kirche
Dieser neue Habitus hat nichts von der überlegenen Strenge und Distanz eines theologischen Traktats, sondern verrät eine ganz neue Demut. Sie beginnt damit, dass sich Kirche selbst als Teil der modernen Gesellschaft begreift, dass sie die Notwendigkeit erkennt, über ihre Glaubensüberzeugungen Auskunft zu geben und damit Rechenschaft abzulegen. Gaudium et spes enthält das Eingeständnis, dass die Kirche mit ihrer Verkündigung nicht nur eine Gebende, sondern auch eine Nehmende ist, dass sie von politischen und sozialen Rahmenbedingungen abhängig ist, dass sie von der modernen Zeit viel gelernt hat und dass sie in der Vergangenheit im Umgang mit dem Atheismus Fehler gemacht hat.
Man räumt auch ein, dass es letztlich die "Laien" sind, die nicht-geweihten Frauen und Männer, die der christlichen Botschaft im öffentlichen Raum zur Wirksamkeit verhelfen. Vor diesem Hintergrund macht die Pastoralkonstitution Ehe und Familie, Kultur und Wirtschaft, internationale Beziehungen und Weltfrieden zu ihrem Thema. Wissenschaften, Bildungswesen und Medien werden als Partner gesehen, die mit ihrem Wirken den Aufbau einer humaneren Welt unterstützen können. Diese Offenheit nach allen Seiten ist die andere Seite der Demut. Beide zusammen markieren einen unübersehbaren "Stilbruch".
Mit Gaudium et spes kehrt in der katholischen Kirche ein neuer Stil des Umgangs miteinander ein, und das hat ganz wesentlich damit zu tun, wie diese Konstitution gestaltet ist. Als erstes lehramtliches Dokument überhaupt folgt dieser Text in seinem Aufbau und in seinen einzelnen Kapiteln konsequent dem Dreischritt Sehen-Urteilen-Handeln. Papst Johannes der XXIII. hatte ihn wenige Jahre zuvor als eine nützliche Arbeitsmethode für die kirchliche Jugendarbeit empfohlen. Mit Gaudium et spes macht sich das Lehramt dieses Verfahren nun selbst zu eigen, und das hat Folgen für die gesamte Verkündigung. Bevor gesellschaftliche Zusammenhänge theologisch und ethisch bewertet werden, wird eine sachliche Analyse der Situation vorgenommen. Sie soll sicherstellen, dass moralische Urteile nicht abgehoben von der Realität erfolgen und die angestrebten Verbesserungen nicht von vornherein ins Leere gehen. Die Methode vermeidet ethische Bewertungen, die zwar der "reinen Lehre" entsprechen, aber kein Veränderungspotenzial enthalten.
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Der Dreischritt ermöglicht auf der Grundlage der biblischen Botschaft und der kirchlichen Sozialverkündigung Lösungen, die aus der Praxis heraus entwickelt werden und damit eine neue, bessere Praxis begründen können. Er steht für eine Kirche, die sich – wie wir heute sagen würden – nicht moralisierend in ihre eigene Blase zurückzieht, sondern aufmacht, um mit den Menschen zusammen Zukunft zu gestalten. In der Ziffer 4 seiner Enzyklika Octogesima adveniens hat Papst Paul VI. 1971 dieses Grundanliegen der Pastoralkonstitution nochmals in Erinnerung gerufen. Er hat damit einen Impuls gesetzt, der weltweit Beachtung fand. Gaudium et spes wurde stilbildend für Hirtenbriefe in Lateinamerika, in den USA und in Europa. Aus der Sozialethik und der Pastoraltheologie, aber auch aus der pastoralen Praxis, aus dem kirchlichen Bildungswesen und der sozialen Arbeit ist der Dreischritt heute nicht mehr wegzudenken.
Dass er zwischenzeitlich aus der lehramtlichen Verkündigung völlig verschwunden ist und erst unter Papst Franziskus (Wage zu träumen, 2022, 162) wieder auftauchte, hat paradoxerweise auch mit der Pastoralkonstitution zu tun, und zwar mit ihrem Verständnis von personaler Freiheit. Dieser Ansatz wurde von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie aufgegriffen und dabei pastoral und sozial, aber auch politisch interpretiert. Als die Befreiungstheologie in den achtziger Jahren von Rom aus kategorisch gestoppt wurde, galt dieses Verdikt nicht nur ihren theologischen Inhalten, sondern auch der Methode. In der Kurie verzichtete man seit dieser Zeit auf den Dreischritt. Faktisch war das ein Rückfall in vorkonziliare Zeiten, den weltweiten Siegeszug des Dreischritts konnte dies allerdings nicht mehr aufhalten. Aber was wollte die Pastoralkonstitution ursprünglich?
Gaudium et spes hat ein Herz für den modernen Menschen. Das verraten nicht nur die ersten Sätze, sondern das zeigt das ganze Dokument. Die Pastoralkonstitution beschreibt den Menschen mit allem, was er ist und was er für sich und für die Gesellschaft leisten kann, aber auch mit dem, was er braucht, wo er unsicher und verletzlich ist, wo er beschädigt oder sogar zerstört wird. Mit eindringlichen Worten spricht der Text von Licht und Schatten der menschlichen Existenz und findet dabei Worte, die uns auch heute noch berühren und nachdenklich stimmen können.
Was bedeutet Freiheit zwischen Liberalismus und Marxismus
Natürlich verzichtet man nicht auf die traditionellen anthropologischen Motive der Geschöpflichkeit, Gotteskindschaft und Ebenbildlichkeit, Schuldverstrickung und Sündhaftigkeit, Erlösungsbedürftigkeit, Hoffnung auf Vollendung und Gemeinschaft mit Gott. Die Pastoralkonstitution verbindet diese theologischen Themen jedoch ganz bewusst mit einem ebenso christlich wie neuzeitlich-humanistisch verstandenen Ethos der Freiheit. Dieser Aspekt des christlichen Menschenbildes war in der Tradition lange Zeit eher unterbelichtet, und es hat den Anschein, dass sich das Lehramt bis heute mit Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen schwertut. Gaudium et spes suchte und fand einen Weg zwischen dem schrankenlosen Freiheitsstreben des Liberalismus und der Unterdrückung der Freiheit im Marxismus. Die Pastoralkonstitution, die der Freiheit immerhin ein eigenes Kapitel widmet (GS 17), beschreibt diese als eine in sozialen Bezügen gelebte Freiheit. Sie verwirklicht sich in der Verantwortung, die Menschen füreinander übernehmen, besonders in Notsituationen und angesichts von Unterdrückung und Verfolgung.
Mit diesem Verständnis der Freiheit des Menschen als Disposition zur sozialen Verantwortung gelingt der Pastoralkonstitution ein Brückenschlag zu den Menschenrechten, die dann auch im Detail beschrieben und gewürdigt werden. Die Freiheitsrechte auf der einen und die sozialen Rechte auf der anderen Seite gehören seit Gaudium et spes zum unverzichtbaren Inventar der kirchlichen Sozialethik. Das Konzil will, wie es selbst sagt, "die Achtung vor dem Menschen einschärfen: alle müssen ihren Nächsten ohne Ausnahme als ein ‚anderes Ich‘ ansehen, vor allem auf sein Leben und die notwendigen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens bedacht" sein (GS 27). Mit der Anerkennung des anderen in seiner Freiheit und Bedürftigkeit deutet Gaudium et spes etwas an, das heute als "Beziehungsethik" diskutiert wird. Mit ihrem freiheitlich-sozialen Menschenbild war die Pastoralkonstitution ihrer Zeit weit voraus.
Mit Gaudium et spes öffnete sich die Kirche nicht nur den Lebensbereichen der modernen Menschen und suchte nicht nur den Dialog mit allen relevanten gesellschaftlichen Akteuren und Gruppen, sie vertrat auch einen betont geschichtsbewussten und zukunftsoffenen Denkansatz. Man beschränkte sich nicht länger auf die Verkündung sogenannter überzeitlicher Werte, sondern unternahm den Versuch, inhaltlich definierte Ziele zu formulieren. Diese blieben notgedrungen sehr allgemein und mussten konkretisiert werden. Sie waren zeitbedingt, vorläufig und damit anfechtbar.
Papst Paul VI. war von 1963 bis 1978 Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche und sprach die Abschlusserklärung zum Konzil.
Für eine Kirche, die sich bisher stets auf "ewige Wahrheiten" zurückgezogen hatte, war dieses Vorgehen sehr mutig, und der Vorwurf einer naiven Fortschrittsgläubigkeit, einer willigen Anpassung an den Zeitgeist und mangelnder Treue zur Tradition ließ auch nicht lange auf sich warten. Umgekehrt gelang es auf diese Weise, die Vision einer gerechteren und friedlicheren Welt aufscheinen zu lassen. Die aufrichtige Bereitschaft, sich "zusammen mit allen Menschen guten Willens" an ihrem Aufbau zu beteiligen, konnte als eine glaubwürdige Selbstverpflichtung verstanden werden.
Gaudium et spes entwirft – als Alternative zu den politischen Utopien der damaligen Zeit – das Bild einer Gesellschaft im Werden. Weil die Verhältnisse oftmals alles andere als perfekt sind, spart die Konstitution nicht mit Kritik, aber sie bezieht sich dabei immer auf die Lebensbedingungen und nicht auf die Menschen. Sie sind und bleiben die Geschwister in der großen Menschheitsfamilie, der sich die Kirche des Konzils zutiefst verbunden weiß. In seiner beeindruckenden Abschlusserklärung ebenfalls vom 7. Dezember 1965 zog Papst Paul VI. eine Bilanz und erläuterte im Hinblick auf die Kritiker nochmals die Grundhaltung der Mehrheit der Konzilsväter:
"Ihre Haltung war ausgesprochen und bewusst optimistisch. Eine Welle von Zuneigung und Bewunderung strömte ausgehend von der Versammlung über die moderne Welt der Menschen. Die Irrtümer wurden zurückgewiesen, weil die Liebe dies nicht weniger als die Wahrheit verlangte, doch für die Menschen selbst gab es nur Einladung, Achtung und Liebe. Statt deprimierende Diagnosen wurden aufmunternde Heilmittel angeboten, statt düsterer Prognosen sendete die Versammlung Botschaften des Vertrauens in die heutige Welt. Die Werte der modernen Welt wurden nicht nur respektiert, sondern auch wertgeschätzt, ihre Bemühungen unterstützt, ihre Bestrebungen geläutert und gesegnet."
Zur Autorin
Ursula Wollasch ist katholische Theologin und promovierte Sozialethikerin. Sie war mehr als zwanzig Jahre auf verschiedenen sozialen Feldern der verbandlichen Caritas tätig und arbeitet seit 2020 als freiberufliche Autorin und Publizistin.