Theologe Biesinger: Die Gesellschaft braucht das Nikolausritual

Er ist ein großer Verfechter des Nikolausbrauchs – und das nicht nur wissenschaftlich: Der emeritierte Tübinger Religionspädagoge Albert Biesinger schlüpft in der Adventszeit selbst nach wie vor in das Kostüm und verkörpert den legendären heiligen Mann aus Myra, und das schon seit mehr als 50 Jahren. Kommende Woche steht ein Besuch in einer Kita an, die von mehreren Religionsgemeinschaften getragen wird. Gerade in eine solche Einrichtung gehört der Nikolaus, sagt Biesinger. Im Interview spricht er zudem über die Relevanz der traditionsreichen Figur gerade in der heutigen Gesellschaft, die immer vielfältiger wird, aber Solidarität zu verlernen scheint.
Frage: Herr Biesinger, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Nikolaus – persönlich wie wissenschaftlich. Was fasziniert Sie an der Figur?
Biesinger: Als Religionspädagoge habe ich viele Jahre zu Ritualen geforscht. Rituale stiften Gemeinschaft, transportieren Botschaften und geben Orientierung. Das Nikolausritual ist dabei für mich zentral: Nikolaus ist ein europäischer Solidaritätsheiliger par excellence. Seine Bedeutung möchte ich der nachwachsenden Generation erschließen. Kinder sollen verstehen, wie wichtig es ist, auch selbst füreinander Nikolaus zu sein.
Frage: Man könnte fast meinen, dass die Nikolausgeschichte längst auserzählt ist – doch das Ritual scheint der zunehmenden Säkularisierung und allen gesellschaftlichen Umwälzungen einigermaßen zu trotzen. Warum ist das so?
Biesinger: Für manche Erwachsene ist die Geschichte vielleicht auserzählt, für Kinder nie. Sie fasziniert auch über Kulturen und Religionen hinweg – in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher und religiöser Vielfalt bringt sie klare Werteorientierungen. Das nehme ich auch bei meinen Besuchen in Kitas wahr, wo es immer mehr Kinder aus anderen Religionen gibt. Auch sie erleben darin etwas Verbindendes, weil jede Religion Solidarität kennt. Sie spüren sofort, worum es geht. Der Nikolaus dient auch der interreligiösen Verständigung.
Frage: Es gibt die Tendenz, religiöse Rituale aus der Gesellschaft zu verbannen. Auch in Kitas ist das ein Thema: Dort wird nicht selten kontrovers zwischen Leitung und Eltern diskutiert, ob der Nikolaus kommen darf oder nicht. Vermutlich eine Entwicklung, die Ihnen Sorge bereitet...
Biesinger: Ja. Das erlebe ich landauf, landab, wenn ich Fortbildungen über religiöse und interreligiöse Bildung leite. Erst kürzlich war ich in einem großen Ausbildungszentrum für künftige Kita-Fachkräfte. Da haben mir Studierende berichtet, dass ihnen im Praktikum sofort gesagt wurde, religiös laufe in der Kita nichts, und mit dem Nikolaus schon gar nicht. Man muss sagen: Dahinter steckt nicht immer nur inkompetente Ablehnung, sondern oft auch Rat- oder Hilflosigkeit. Manchmal haben die Verantwortlichen, vielleicht auch wegen schlechter Erfahrungen aus der eigenen Kindheit, ein falsches Bild. Ich halte entschieden dagegen: Kinder haben ein Recht auf religiöse Bildung – und damit auch ein Recht auf das Nikolausritual. Und wenn jemand Unterstützung braucht: Ich stehe gerne für ein Nikolaustraining zur Verfügung (lacht).
Albert Biesinger (77) ist emeritierter Professor für Religionspädagogik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Ständiger Diakon. Er sagt: Die Nikolausfigur kann als religionspädagogisches Vorbild dienen.
Frage: Generell werden weihnachtliche Rituale zunehmend von ihrem christlichen Ursprung entkoppelt. Auch der Nikolaus ist davor nicht gefeit – bei Weihnachtsfeiern von Vereinen ist der Nikolausbesuch dann eher eine Spaßveranstaltung. Sollte man sich darüber ärgern oder das so hinnehmen?
Biesinger: Die Gesellschaft tendiert oft immer mehr zur Verflachung, zur Banalisierung – und dann läuft eben eine Figur wie der Weihnachtsmann herum, der überhaupt gar keine Botschaft bringt. Es gibt den schönen Spruch: Vom "Oje" zum "Aha". Man kann darüber klagen oder die Chance sehen. Als Kirche sollten wir freundlich, aber aufrecht und klar für die Bedeutung des Rituals eintreten. Denn ich bin ich davon überzeugt, dass man angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen im Blick auf abnehmende Solidarität das Ritual nicht abbauen, sondern ausbauen sollte. Das kann auch in Vereinen oder in Fußballstadien gelingen.
Frage: Es klang schon an, Stichwort schlechte Erfahrungen: Früher wurde der Nikolaus für schwarze Pädagogik missbraucht. Was ist Ihre Beobachtung – ist das immer noch ein Thema?
Biesinger: Gewalt ist zum Glück kein Thema mehr. Und auch die Tendenz, dass der Nikolaus mit seinem Auftreten oder seinen Worten Angst macht, lässt nach, ist aber leider noch nicht ganz verschwunden. Eigentlich ist das ein absolutes No-Go, wenn man das Nikolausritual dazu verwendet, Kinder zu verängstigen. Denn welches Bild wird da von Gott transportiert, und was löst das in einer Kinderseele aus? Das ist eindeutig spiritueller Machtmissbrauch und gehört eigentlich angezeigt. Problematisch finde ich auch, dass immer noch an der Figur des Knecht Ruprecht – in all ihren regionalen Ausprägungen – festgehalten wird. Wenn man ehrlich ist: Für viele Darsteller geht es nur darum, ihre Macht auszuspielen. Da kommt man leider nur schwer gegen an, weil das bei manchen offensichtlich tief in der Kultur drinsteckt.
Frage: Welche Verantwortung hat jemand, der die Rolle des Nikolaus übernimmt?
Biesinger: Zugewandte und fröhliche Authentizität ist entscheidend. Ein Darsteller sollte sich mit der Botschaft des Nikolaus identifizieren und Begeisterung für das Ritual mitbringen. Ich sage den Kindern immer, warum ich den Nikolaus so mag – und warum es mir wichtig ist, ihn zu spielen: weil er jemand ist, der dafür steht, Kindern Gutes zu tun. Das sollte ein Nikolaus auch verkörpern: lächelnd und begeisternd. Kinder spüren sofort, ob jemand "echt" wirkt.
Frage: Wir haben jetzt viel über Theorie und gesellschaftliche Umstände gesprochen. Kommen wir nun zum Kern: Wie gehen Sie die Rolle des Nikolaus an? Worauf legen Sie wert, wenn Sie eine Kita besuchen?
Biesinger: Ich ziehe das Kostüm immer vor den Augen der Kinder an. Nach einer kurzen Begrüßung wird gesungen; ich erzähle Legenden rund um den Nikolaus. Danach setze ich einem Kind meine Mitra auf und erörtere mit allen, wie man in der Kita füreinander Nikolaus sein kann. Jedes Kind erhält am Schluss ein kleines Geschenk und einen Segen – auch die muslimischen, natürlich ohne Kreuzzeichen. Ich sage dabei: "Gott beschütze dich." Ein kurzer Blickkontakt – und man hat das Gefühl, das Kind hat was begriffen.
"Ein Darsteller sollte sich mit der Botschaft des Nikolaus identifizieren und Begeisterung für das Ritual mitbringen. Ich sage den Kindern immer, warum ich den Nikolaus so mag – und warum es mir wichtig ist, ihn zu spielen", betont Biesinger.
Frage: Also einen bewussten inter-religiösen Segen?
Biesinger: Ja, das ist mir ganz wichtig. Ich rate, dass alle Nikolausspieler es so handhaben, weil damit die Gottesbeziehung im Ritual aufscheint. Die Figur des Nikolaus sagt aus: Du bist von Gott beschützt. Das gilt doch selbstverständlich für Kinder aller Religionen oder ohne Religion.
Frage: Darf ein Nikolaus tadeln?
Biesinger: Er sollte eher Positives bestärken oder allgemein darüber sprechen, was man nicht tun sollte. Kindern wissen selbst, was gut ist – und was nicht. Bloßstellen eines einzelnen Kindes ist tabu. Es wird dadurch nochmals stigmatisiert, obwohl es meistens ohnehin genug Probleme hat, wenn es sich auffällig verhält.
Frage: Sie sagen, dass Sie sich vor den Kindern das Kostüm anziehen. Wie viel Illusion darf man ihnen lassen?
Biesinger: Das wurde mit tatsächlich vor Jahren einmal von einem einzigen Elternpaar vorgeworfen. Die haben dann ein Jahr später ihr Kind am Nikolaustag nicht in den Kindergarten geschickt, weil Sie moniert haben, ich hätte ihm die Illusion geraubt. Das nehme ich in Kauf. Mir ist religionspädagogisch wichtig: Die Kinder sollen begreifen können, dass es ein heiliges Spiel ist und dabei eben kein Mann aus dem Wald kommt. Für manche ist das vielleicht fremd. Aber das besagte Kind war dann später doch wieder dabei.
Frage: Würden Sie sagen, die Figur des Nikolaus ist ein religionspädagogisches Vorbild?
Biesinger: Eindeutig, auch für mich persönlich. Das Nikolausritual zeigt Nächstenliebe und Empathie in einer besonders dichten Form. In einer Zeit, in der Solidarität manchmal spöttisch als "Gutmenschenkram" abgetan wird und Nächstenliebe bei manchen sogar zum Unwort wird, wie Bischof Feige kürzlich zurecht bemerkt hat, ist dieses Ritual auch gesellschaftspolitisch hoch relevant. Die Botschaft des Nikolaus ist nicht fromme Folklore. Sie erinnert daran, dass wir solidarische Verantwortung füreinander tragen. Jetzt erst recht.