Religionssoziologe Ebertz über die Situation der deutschen Kirche

"Ein dramatischer Epochenwandel"

Veröffentlicht am 25.11.2015 um 00:01 Uhr – Von Kilian Martin – Lesedauer: 
Eine Frau verlässt die Kreuzkirche in Bonn.
Bild: © KNA
Kirche

Freiburg ‐ Der Papst präsentierte in der vergangenen Woche eine drastische Bestandsaufnahme des kirchlichen Lebens in Deutschland. Dem Religionssoziologen Michael N. Ebertz geht die aber noch nicht weit genug, wie er im Interview verrät.

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Frage: Herr Ebertz, hat Sie die Deutlichkeit der Worte von Papst Franziskus überrascht?

Ebertz: Ja und Nein. Den diagnostischen Teil, der in dieser Ansprache steckt, halte ich im Großen und Ganzen für richtig, auch wenn mir die Diagnose nicht tiefgreifend genug ist. Sehr auffällig ist auch die Selbstkritik an der kirchlichen Institution. Was die "Therapien" angeht, bin ich etwas gespalten in meinem Urteil. Auf der einen Seite wird eine Art Auffrischung in Rückbesinnung auf die Ursprünge des Christentums angemahnt. Auf der anderen Seite wird ein sehr eindeutiger Strukturkonservatismus empfohlen. Da fehlen mir zum Beispiel der Begriff, die Idee und auch die Kraft, die mit dem Wort des Allgemeinen Priestertums verbunden sind.

Frage: Papst Franziskus spricht in seiner Ansprache von einer "Erosion des katholischen Glaubens in Deutschland". Teilen Sie diese Einschätzung?

Ebertz: Die teile ich, ja. Vielleicht muss man aber eher von einer Erosion der katholischen Glaubenspraxis sprechen. Diese Prozesse sind ja im Grunde seit 40 Jahren deutlich. Doch die Diagnosen und Prognosen wurden damals von kirchenoffizieller Seite nicht ernst genommen, sonst hätte man früher interveniert. Die Diagnose ist eindeutig vor allem, was den Rückgang der Beichte angeht und – das ist hier hervorzuheben – die Nachfrage nach dem Sakrament der Ehe. Da haben wir im Grunde den größten Einbruch in den kirchlichen Zahlen. Auch im Blick auf  die Zahlen des Gottesdienstbesuchs liegen wir inzwischen bei zehn Prozent. Wenn man aber auf die Alterszusammensetzung, die Milieuzusammensetzung dieser Gottesdienstgemeinde schaut, kann man voraussagen, dass die Erosion sich in den nächsten Jahren noch beschleunigen wird. Wir haben, wenn man so will, eine Ruinierung der bisherigen Sozialgestalt der Kirche. Die Erosion der Gnadenanstalt Kirche habe ich vor beinahe 20 Jahren prognostiziert und sie ist wirklich eingetroffen.

Frage: Der Papst spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Kirche ihre "lähmende Resignation" überwinden müsse. Wie drückt sich diese aus?

Ebertz: Es gibt eine gewisse Ignoranz in der Kirchenleitung. Und zwar in einer doppelten Weise: Man schaut vielleicht hin, meint aber doch, das Ganze sei gar nicht so dramatisch, wie es die Zahlen zum Ausdruck bringen. Weil man ja in einem binnenkirchlichen Kontext lebt, der noch irgendwie den Eindruck erzeugt, es ist doch alles noch recht vital. Und die andere Seite der Ignoranz: Man hat immer geglaubt und gehofft, da gäbe es eine Kehrtwende, die Krise würde irgendwann ein Tal erreichen und dann ginge es wieder aufwärts. Man hat die langfristige Erosionstendenz tatsächlich nicht ernst genommen und nicht frühzeitig interveniert. So ist dann mit der Zeit diese resignative Stimmung entstanden, wie sie  der Papst hier benennt. Ich glaube nicht, dass die Resignation die Ursache für die Erosion ist, sondern die Resignation ist eine Folge der Erosion und der Tatsache, dass die Krise eben keinen Wendepunkt erreicht hat.

Linktipp: "Eine Erosion des katholischen Glaubens in Deutschland"

Mit einem drastischen Befund über das kirchliche Leben in Deutschland wandte sich Papst Franziskus zum Abschluss ihres Ad-Limina-Besuchs an die deutschen Bischöfe. Katholisch.de dokumentiert den Text der Ansprache des Papstes im Wortlaut.

Frage: Lässt sich diese Stimmung allein durch Ehrlichkeit überwinden? Indem man jetzt sagt, "ja, wir erkennen das an"?

Ebertz: Das kann man so sicherlich nicht sagen. Denn Resignation hat ja auch eine emotionale, nicht nur eine kognitive Seite. Um die Resignation zu überwinden, ist zunächst eine klare Diagnose der Ist-Situation der Kirche, aber auch der Gesellschaft vonnöten. Da sehe ich eine weitere Seite der Ignoranz: Anstatt die gesellschaftlichen Entwicklungen klar zu diagnostizieren, nimmt man eine Haltung der Abwertung ein. Das ist auch im päpstlichen Text zu spüren. Da ist von einem "verweltlichten Menschen" die Rede. Von Menschen, die sich nicht öffnen für den Lichtstrahl Gottes und seiner Liebe. Das sind alles Abwertungen. Da beschreibt man den "verweltlichten Menschen" so, als hätte er keine "Transzendenz-Antennen" mehr. Die Menschen haben solche Antennen! Sie werden nur nicht mehr nach der Kirche ausgerichtet, sondern im Do-It-Yourself-Verfahren an anderen Energiequellen. Statt aber zu sehen, dass die Menschen transzendenzoffen und nicht diesseitsverbogen sind, wertet man sie ab und geht in einen Jammerton über. Die Zeichen der Zeit werden nicht wirklich gesehen, auch nicht meditiert und spirituell durchdrungen. Es gibt auch positive Seiten des modernen Lebens. Und die kommen nicht vor, auch nicht in diesem Text. Zudem gibt es auch eine negative Seite in der Erfahrung von Kirche: Dass man in ihr die Transzendenz-Antennen vermisst.

Frage: "Die Weltlichkeit verformt die Seelen", heißt es in Franziskus' Ansprache. Das erinnert an düstere soziologische Diagnosen von vor über 100 Jahren. Ist die Kirche kulturpessimistisch?

Ebertz: Ja, ganz genau! Dieser kulturpessimistische Ton steckt  in vielen kirchlichen Texten. Das war bei Papst Benedikt noch stärker zu greifen, in Variationen kommt es aber auch bei Papst Franziskus vor. Man bewertet, statt zu beschreiben, zu diagnostizieren und zu analysieren. Dieser Zwischenschritt fehlt. Übrigens ist das meines Erachtens auch auf der Familiensynode zu wenig erfolgt. Kirchliche Texte wie dieser von Franziskus zeigen, dass sozialwissenschaftliche Diagnosen nicht sonderlich ernst genommen werden.

Frage: An dieser Stelle kommen Leute wie Sie ins Spiel. Der Papst spricht in seiner Rede auch direkt die Lehrenden an den Hochschulen an und fordert von ihnen ein besonderes "sentire cum ecclesia" - ein Fühlen mit der Kirche - ein. Was bedeutet das für Sie? Sehen Sie sich in einem Widerspruch, einerseits klar und deutlich zu analysieren und andererseits im Dienst der Kirche zu stehen?

Ebertz: Alles, was ich kirchen- und pastoralsoziologisch mache, steht in diesem Dienst. Selbst wenn ich eine scharfe, vielleicht auch unerfreuliche Diagnose stelle, tue ich das im Sinne dieses Mitfühlens und der Verantwortung für die Kirche. Man kann doch dem Arzt, der einem Patienten eine Diagnose stellt, und sei sie noch so ernsthaft und vielleicht lebensbedrohlich, nicht vorwerfen, er würde keine Empathie für den Patienten zeigen. Man kann ihm doch nicht sagen, "verpack' doch bitte Deine Diagnose in andere Worte, damit ich nicht merke, welche Krankheit ich habe". So ähnlich verstehe ich auch meinen Job. Mit all meinen Möglichkeiten, die ich als Hochschullehrer habe, versuche ich, die Dinge wahrzunehmen und sie nicht im diplomatischen Modus zu verpacken, sondern ungeschönt direkt zu formulieren. Das polarisiert manchmal und führt zu Abwehrhaltungen. Aber es dürfte eigentlich kirchenleitenden Instanzen nicht passieren, dass sie in solchen Fällen in die Abwehr übergehen. Wir leben mitten in einer gesellschaftlichen und kirchlichen Transformation, sind mitten in einem Epochenwandel, den man eigentlich nicht dramatisch genug beschreiben kann. Der Papst sagt selbst, wir dürfen uns nicht ans "Strandgut 'der guten alten Zeit'" klammern. Das ist ein Hinweis, dass wir tatsächlich Neues denken müssen.

Michael N. Ebertz ist Religions- und Kirchensoziologe an der Katholischen Hochschule Freiburg.
Bild: ©privat

Michael N. Ebertz ist Religions- und Kirchensoziologe an der Katholischen Hochschule Freiburg.

Frage: Wie ist das zu verstehen?

Ebertz: Das Wort "Neu" ist so etwas wie ein Machtwort unseres Zeitgeistes. Zugleich ist es aber auch ein Merkmal des Christentums: Der in Christus neugeborene Mensch ist ein wichtiges Schlüsselwort für die christliche Mission. In der Ansprache und in anderen Texten des Papstes stecken inspirierende Anregungen für eine Neugestaltung, sogar eine Neubegründung der Kirche mit Rückgriff auf die Anfänge. Aber es ist darin auf der anderen Seite auch ein Strukturkonservatismus zu finden, der mit den Realitäten in Deutschland nichts mehr zu tun hat. Wenn ich da etwa lese, die Berufungspastoral beginne mit der Sehnsucht nach dem Priester in den Herzen der Gläubigen. Wenn ich solche Sätze lese, frage ich mich: Wo sind wir denn?

Frage: Sie beschrieben das Wort "Neu" als Machtwort. Auch in dem von Ihnen so bezeichneten "Therapieteil" der Papstrede heißt es, dass eine neue Dynamik in der Mission nötig sei. Zugleich kritisiert der Papst den Strukturalismus als eine "Art neuen Pelagianismus". Stehen Struktur und Dynamik denn im Widerspruch?

Ebertz: Nein. Aber ich kann nicht allein in alten Strukturen Kirche neu denken. Wie kann man denn auf der einen Seite diagnostizieren, dass die Beichte nachhaltig erodiert ist und die Eucharistiefeier immer weniger nachgefragt wird, andererseits aber einfach sagen, die Erneuerung komme aus der Verantwortung des geweihten Priesters für die Liturgie? Wir müssen doch vielmehr fragen: Wo fragen denn Menschen tatsächlich noch Kirche nach? Von woher kann die Vitalität der Kirche kommen? Wo gibt es auch noch Bedarf der Menschen an kirchlichen Amtshandlungen? Da stellen wir fest: Die Eucharistiefeier ist es offensichtlich nicht.

Frage: Woher kommt die Erneuerung dann?

Ebertz: Wir müssen sehen, wo die Kirche noch als sakramentale Institution wahr und ernst genommen wird. Die Riten der Lebenswende – also Taufe, Beerdigung, aber auch die Erstkommunion – werden noch sehr stark nachgefragt. Also ist die punktuelle, situative Dienstleistung von Kirche weiter auszubauen. Zum Beispiel indem wir einen stärkeren Akzent setzen auf die Sakramentalien. Auch indem wir entdecken, dass in der modernen Gesellschaft neue Lebensübergänge entstanden sind, die für viele Menschen krisenhaft sind. Etwa ein Umzug, oder der Wechsel in den Ruhestand. Dort müssen wir mit symbolischen Handlungen und sakramentalen Angeboten zur Stelle sein.  Es gibt auch ein theologisches Argument, die Dienstleistungsseite von Kirche auszubauen. In der Konstitution "Lumen gentium" (LG 4) heißt es, dass die Kirche nicht nur communio ist, sondern auch ministratio, also Gemeinschaft und Dienstleistung. Neben dem starken Communio-Gedanken nach dem Zweiten Vaticanum wird häufig übersehen, dass die Kirche eine Art zweiter Struktur hat, nämlich diese Dienstleistungsstruktur. Das will man nicht so gerne hören. Wir reden zwar gerne von Dienst, aber nicht von Dienstleistung. Obwohl die meisten Menschen in Deutschland die Kirche tatsächlich als eine rituelle und karitative Dienstleisterin wünschen.

Zur Person

Michael N. Ebertz ist Professor für Sozialpolitik, Freie Wohlfahrtspflege und kirchliche Sozialarbeit an der Katholischen Hochschule Freiburg. Der Theologe und Soziologe leitet das Zentrum für Kirchliche Sozialforschung, an dem unter anderem Kirchenbindung und Kirchenaustritte mit sozialwissenschaftlichen Methoden erforscht werden.
Von Kilian Martin