Joachim Valentin über die politische Entwicklung unter Erdogan

Die Türkei auf dem Weg in die Diktatur

Veröffentlicht am 21.07.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Standpunkt

Bonn ‐ Joachim Valentin über die politische Entwicklung unter Erdogan

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Am vergangenen Sonntag sind eine Million oppositionelle Türkinnen und Türken von Ankara nach Istanbul marschiert, um ihre massive Unzufriedenheit mit den herrschenden politischen Verhältnissen unter Präsident Erdogan zu demonstrieren. Ein mächtiges Zeichen des Widerstandes in einem Land, das mit unserem so eng verbunden ist, wie kaum ein anderes, allein schon, weil etwa 3,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln hier in Deutschland leben und arbeiten.

Davor war bekannt geworden, dass Liegenschaften der uralten orientalischen Christenheit im Osten des Landes, unter anderem das Kloster Mor Gabriel, in die Hände der sunnitisch-islamischen Religionsbehörde Dyanet gefallen und damit die inzwischen verschwindend geringe christliche Minderheit erneut massiv unter Druck geraten war.

Nachdem gestern nicht mehr nur der deutsche Journalist Deniz Yücel, sondern neben 150 anderen Journalisten (und ca. 50.000 angeblichen Putschisten) auch mehrere europäische Menschenrechtsaktivisten mit windigen Gründen in Haft gelandet und deutsche Unternehmen von Erdogan in die Nähe des Terrorismus gerückt worden sind, scheint die Geduld von EU-Verantwortlichen und der Bundesregierung endlich an ihr Ende gekommen zu sein. Nun wird über massive wirtschaftliche Sanktionen gesprochen, werden Touristen vor einer Reise in die Türkei ausdrücklich gewarnt. Der seit 2002 anhaltende Aufschwung der türkischen Wirtschaft ist für viele Türkinnen und Türken von Anfang an das stärkste Argument gewesen, sich auf Erdogans Seite zu schlagen. Verwandelt sich deren längst begonnener Sinkflug nun in einen Absturz, weil internationales Kapital aus dem Land flieht, der Tourismus weiter einbricht und die wirtschaftsstarken "anatolischen Tiger" – oft der Gülen-Bewegung nahestehende Beamte, Unternehmer und Wissenschaftler – außer Landes gedrängt wurden, wird auch der Rückhalt Erdogans in der Bevölkerung schwinden.

Doch welche Bedeutung hat das für die Lage hier in Deutschland? Längst hat Erdogans radikaler Egotrip hunderte Menschen, die seinen Häschern entkommen konnten, auch ins deutsche Exil getrieben. Der Zerfall der türkischen Gesellschaft macht sich auch in Deutschland bemerkbar. Kurden, linke Kemalisten, Anhänger der Gülen-Bewegung, Erdogan-treue AKPler und Aleviten haben den moderaten Umgangston der vergangenen Jahre untereinander längst abgelegt. Der von einem verantwortungslosen Diktator entfesselte Bürgerkrieg von oben gefährdet auch jenseits der Bespitzlung durch Ankaraner Imame den Frieden hierzulande bis tief in die Familien hinein. Längst dürften unsere Verfassungsorgane mit dem Agieren des türkischen Geheimdienstes hierzulande befasst sein.

Appeasement ist also spätestens jetzt kein Mittel der Wahl mehr. Die demokratischen Kräfte in der Türkei müssen auch hierzulande gestärkt und das Regime Erdogan wirtschaftlich geschwächt werden. Wer als türkische Bürger hier zufrieden in einer Demokratie lebt, muss sich fragen lassen, was er gegen die Diktatur in seinem Herkunftsland tut, und jede Kooperation mit nach wie vor staatstreuen Kräften wie der Ditib kann für Staat und Kirche nur mit einem großen Fragezeichen versehen werden.

Von Joachim Valentin

Der Autor

Joachim Valentin ist Direktor des katholischen Kultur- und Begegnungszentrums "Haus am Dom" in Frankfurt am Main und Vorsitzender des Frankfurter Rates der Religionen.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.