Was das Warten mit Religion und Macht zu tun hat

Andreas Göttlich ist Soziologe und erforscht in einem DFG-Projekt das Alltagsphänomen des Wartens. Mit katholisch.de sprach er darüber, warum viele Menschen das Warten nervt, was Warten mit Macht und Religion zu tun hat, und er gibt Tipps, wie Christen die Wartezeit des Advents gut überbrücken können.
Frage: Herr Göttlich, warum regt die Menschen das Warten so auf – an der Supermarktkasse, beim Arzt?
Göttlich: Die Geduld ist keine angeborene Fähigkeit. Kinder müssen Geduld erst erlernen, das ist eine Frage der Sozialisation. Und bei uns in den westlichen Kulturen nehmen wir Warten oft als vertane Zeit wahr. In manchen Situationen hat das Warten aber auch für uns noch eine Funktion. Am Flughafen zum Beispiel. Manche genießen die zwei, drei Stunden vor Abflug. Sie kommen aus dem Alltagsstress, wollen jetzt in den Urlaub. In dieser Zwischenphase kann das Warten hilfreich sein, um sich darauf einzustellen, was vor uns liegt.
Frage: Welche Art von Wartezeit ist der Advent?
Göttlich: Der Advent ist für Christen auch eine Zeit der Vorfreude. Dafür gibt es die adventlichen Regeln und Rituale, die sich in der Kirchengeschichte ja durchaus verändert haben. Früher wurde im Advent gefastet, der zeitlich begrenzte "Vier-Sonntags-Advent" hat sich erst mit der Zeit entwickelt. Beide Beispiel zeigen aber: Der Advent ist eine institutionalisierte Wartezeit. Durch die Institutionalisierung bekommen die Gläubigen Halt bei der Sinnsuche.
Frage: Inwiefern spielt Zeit in unterschiedlichen Religionen eine unterschiedliche Rolle?
Göttlich: Es gibt Philosophen, die behaupten, dass das Warten eine Erfindung des jüdisch-christlichen Denkens ist. Dort zeigt sich erstmals eine lineare Vorstellung von Zeit mit offenen oder im Judentum sogar geschlossenen Zeithorizont: Die Juden warten auf die Wiederkehr des Messias. Diese Vorstellung der Zeit, die immer weiter fortschreitet, ist eigentlich die Voraussetzung dafür, dass man Warten kann. Andere Religionen und Kulturen mit dem Konzept von Wiedergeburt haben eine zyklische Vorstellung von Zeit. Nach Ansicht mancher Philosophen gibt es dann eigentlich kein Warten im strengeren Sinne.
Andreas Göttlich ist Leiter des DFG-Projekts "Warten. Zur Erforschung eines sozialen Alltagsphänomens" an der Universität Konstanz.
Frage: Sie haben erforscht, wie Menschen in Deutschland, Argentinien und Japan warten. Warum warten Menschen auf unterschiedlichen Erdteilen anders?
Göttlich: Nehmen wir mal das Beispiel ÖPNV: In Japan ist die Hemmschwelle, sich bei Verspätungen lauthals zu beschweren, sehr viel größer als hierzulande. Selbst wenn die Leute ungeduldig sind, gibt es andere Werte, die sie von Beschwerden abhalten. Denn die Japaner haben das Ideal, dass man in der Öffentlichkeit nie sein Gesicht verlieren und Emotionen zeigen darf. Das ist in Argentinien natürlich ganz anders. Deutschland liegt so im Mittelfeld, könnte man sagen.
Frage: Nach ihren Forschungen kann Warten auch etwas mit Macht zu tun haben. Wie geht das?
Göttlich: Zum Beispiel in Politik oder Wirtschaft wird Warten als Mittel benutzt, um Macht zu demonstrieren. Man lädt jemanden vor, lässt die Person dann aber ganz bewusst noch ein bisschen warten. Damit zeige ich: meine Zeit ist wertvoller als deine. Das widerspricht aber dem Gleichheitsanspruch, den wir in unserer demokratischen Gesellschaft haben: Auch wenn jemand mehr Geld verdient oder einen besseren Job hat, würden wir trotzdem sagen, an der Supermarktkasse sind wir alle gleich.
Frage: Wie haben Smartphones und Soziale Medien das Warten verändert?
Göttlich: Manche Forscher, etwa in der Pädagogik, glauben, dass besonders junge Leute sich wegen ihrer ständigen Handynutzung nicht mehr auf längerfristige Kontexte konzentrieren können. Aber die Handys und Smartphones haben eine doppelte Funktion. Ich kann damit anderen auch signalisieren: Ich bin beschäftigt, bitte spreche mich nicht an. Das Handy kann mir also Ruhe verschaffen – gerade in Wartesituationen. Das sind ja oft Situationen, in denen wir nicht unbedingt gern kommunizieren, sei es nun im Aufzug, im Zug oder Wartezimmer. Wenn wir aufs Handy schauen, haben wir unserere Ruhe und können auch Blickkontakte vermeiden.
Frage: Können alle Menschen gleich gut warten oder gibt es Unterschiede?
Göttlich: Es ist empirisch weder so, dass ältere Menschen besser warten könnten als jüngere. Auch Geschlechterunterschiede sind nicht nachzuweisen. Allerdings könnte es sein, dass Menschen, die besser warten können, schlicht weniger stressanfällig sind. Sie geraten am Bahnschalter nicht so leicht in Zorn — und sind ihren Mitmenschen wohl die angenehmeren Zeitgenossen.
Mit 24 Gedichten durch den Advent
Um die - leider meist hektische - Zeit des Wartens bis Weihnachten zu überbrücken, lädt katholisch.de in diesem Jahr zum Innehalten ein. Und zwar mit 24 mal mehr, mal weniger bekannten Gedichten. So wird der Advent besinnlich, nachdenklich und manchmal auch spöttisch - aber nie langweilig.Frage: Wie kann man Wartezeiten gut überbrücken – besonders die Adventszeit, die ja angefüllt ist mit Terminen?
Göttlich: Die Adventszeit ist sehr stark säkularisiert worden. Der ursprüngliche Sinngehalt, das Warten auf Jesu Geburt, ist von Konsuminteressen überlagert. Weihnachtsmärkte machen immer früher auf, die ersten Weihnachtsartikel bekommen wir schon im August. Das widerspricht aber der Idee des Wartens und auch der Vorfreude. So simpel das ist: Wenn Christen den ganzen Rummel etwas zurückfahren, dann haben sie die Chance, den ursprünglichen Sinn der Adventszeit wieder freizulegen.
Frage: Welche allgemeinen Strategien können Christen helfen, die Wartezeit zu überbrücken?
Göttlich: Man kann sich natürlich vorbereiten. Allein schon das Wissen, ja, die Wartezeit wird kommen, erleichtert die Sache. In Alltagssituation ist man ja vor allem dann genervt, wenn man in Ungewissheit bliebt: Also, wenn der Zug Verspätung hat, aber die Bahn nicht sagt, das ist der Grund und dann fährt der Zug weiter. Am schwersten ist Warten übrigens, wenn wir gar nicht wissen, ob e sich überhaupt lohnt. Vielleicht ist der Advent für die Christen insofern gar nicht so eine schwere Zeit – schließlich warten sie auf die Geburt Christi, auf den sich ihr ganzer Glaube stützt.
Frage: Kann man auch zusammen warten?
Göttlich: Ja, es gibt so etwas wie soziale Wartegemeinschaften. Es gibt einige negative Beispiele. Die Fiat-Lux-Sekte etwa wartet auf den Weltuntergang. Bei solchen esoterisch und religiös überhöhten Wartezeiten spielen Führungspersönlichkeiten eine Rolle, die die Regeln fürs Warten aufstellen. Sonst würde die Wartegemeinschaft auseinanderfallen. Aber es gibt auch andere Beispiele von Wartegemeinschaften. Nehmen wir die Adventszeit. Wenn die Kinder unbeaufsichtigt warten müssten, würden sie das wohl nicht schaffen. Die 24 Türchen im Adventskalender wären wahrscheinlich schon am ersten Tag geöffnet. Hier braucht es die Kontrolle und die Autorität der Erwachsenen. Sie sind die Hüter der vorweihnachtlichen Geduld.