Comeback eines besonderen Brauchtums

Die Tradition der Heiligen Gräber

Veröffentlicht am 20.04.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Ein uralter Brauch während der Kartage ist das Aufbauen des Heiligen Grabes. In den vergangenen Jahren lebte diese Tradition mancherorts wieder auf und machte so das Geheimnis von Tod und Auferstehung anschaulich erfahrbar. Doch wie ist dieser Brauch entstanden? Und wo liegen seine Wurzeln? Unser Autor Fabian Brand erklärt es.

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Vielerorts gibt es während der Kar- und Ostertage besondere Bräuche und Traditionen: Dazu gehören die geschmückten Osterbrunnen ebenso wie das Ratschen oder Raspeln, welches das Läuten der Glocken ersetzt. Ein uralter Brauch, der aber über eine längere Zeit aus vielen Kirchen verschwunden war, ist das Aufbauen des Heiligen Grabes in der Karwoche. In den letzten Jahren konnte diese Tradition mancherorts wieder aufleben und das Geheimnis von Sterben und Auferstehen Jesu ganz anschaulich erfahrbar machen. Doch wie ist dieser Brauch entstanden? Wo liegen seine Wurzeln? Und wie kann er den Gläubigen heute helfen, sich neu mit dem Geheimnis von Jesu Leiden, Tod und Auferstehen auseinanderzusetzen?

Die biblischen Zeugnisse stimmen darin überein, dass Jesus nach seiner Kreuzigung in einem Grab beigesetzt wurde. Dieses Grab gehörte dem Ratsherrn Josef von Arimathäa, der es wohl für sich und seine Familie erworben hatte. Im Johannesevangelium ist erwähnt, dass es sich in der Nähe des Kreuzigungsortes in einem Garten befunden habe. Alle vier Evangelien erzählen, dass es ein neues Grab war, in dem noch niemand bestattet worden war. Gemäß dem ortsüblichen Brauchtum hat es sich wohl um ein Felsengrab gehandelt, also um eine aus dem Fels geschlagene Grabhöhle. In dieser Grabhöhle befand sich eine Felsbank, auf welche der in Leinentücher gehüllte Leichnam gelegt wurde. Das Grab wurde – auch das berichten die Evangelien – von einem größeren Stein verschlossen.

Das Auffinden des Grabes dank "göttlicher Eingebung"

Für die frühen Christen spielte das Grab Jesu anscheinend keine wichtige Rolle. Zumindest berichtet außer den Evangelien keine neutestamentliche Schrift von einer besonderen Verehrung, die dem Grab zugekommen wäre. Für Paulus, der im 1. Korintherbrief das älteste Osterzeugnis vorlegt, zählt allein die Tatsache, dass Jesus gestorben und von den Toten auferstanden ist. Als in den Jahren nach dem Ende des Jüdischen Krieges die Stadt Jerusalem von den Römern zerstört worden war, begann ab 130 n. Chr. unter Hadrian der Wiederaufbau. An der Stelle der heutigen Grabeskirche errichtete Hadrian einen Tempel sowie das Forum der Stadt. Erst unter Konstantin wurde unter den Aufschüttungen, die Hadrian als Fundament für seine Bauten heranschaffen ließ, das Grab Jesu freigelegt.

Der Theologe und Geschichtsschreiber Eusebius von Caesarea schreibt, das Auffinden des Grabes sei "göttlicher Eingebung" verdankt. Ob es freilich eine Lokaltradition gab, die ein Gedächtnis an die Grabstätte Jesu bewahrte oder ob Eusebius dadurch nur eine neue Tradition mittels höchster Autorität legitimieren wollte, bleibt offen. Konstantin jedenfalls errichtete eine prächtige Basilika, deren westliches Ende die Rotunde mit der Grabesädikula bildete. Die Kirche wurde 614 erst durch Feuer beschädigt und schließlich 1009 durch al-Hakim vollständig zerstört. Schon bald danach wurde die Grabeskirche wieder aufgebaut; die Kapelle, die das Grab birgt, errichtete man nach einem Brandschaden 1809 im Stil des osmanischen Barock.

Bild: ©Volker Haak/Fotolia.com

Die Grabeskirche in Jerusalem.

Die "Heiligen Gräber"sind zuallererst Nachbauten dieses Grabes, das sich in der Jerusalemer Anastasis-Kirche befindet. Schon sehr früh versuchte man, die Grablege Jesu nachzuahmen: Als ältestes Monument gilt eine Grabesädikula aus dem 5. Jahrhundert in Narbonne, die älteste architektonische Nachahmung der Grabeskirche ist die Basilika S. Stefano in Bologna. In Deutschland befindet sich der früheste Nachbau in Fulda, es handelt sich um die von Abt Eigil Anfang des 9. Jahrhunderts in Auftrag gegebene Kirche St. Michael. Im bayerischen Eichstätt befindet sich eine romanische Kapelle, die dem Jerusalemer Vorbild nachempfunden ist; als ältestes Heiliges Grab in Deutschland gilt Gernrode in Quedlinburg.

Einen Höhepunkt erreichten die Nachbildungen der Heiligen Gräber in der Barockzeit. Es entstanden pompöse und ausladende Theaterkulissen, auf denen vielerlei Szenen der Passion Jesu dargestellt waren. Vorbild für diesen Kulissengräber war der italienische Maler und Architekt Andrea Pozzo, der sich besonders mit der illusionistischen Malerei auseinandersetzte. Scheinkuppeln und perspektivische Fresken entstanden unter seiner Anleitung, sie waren eine willkommene Anregung, an denen sich die Erbauer vieler Heiliger Gräber orientierten. Durch den kulissenhaften Aufbau erweckten die Gräber den Eindruck, viel größer und ausladender zu sein, als sie es in Wirklichkeit waren.

"Und seine Ruhe wird herrlich sein"

Beeindruckend ist der Ideenreichtum bei der Bemalung der Kulissen: Ornamente und architektonische Elemente zierten die Gräber ebenso wie vielfältige Szenen aus der Passion Jesu. Vielerorts wurden die Heiligen Gräber mit Blumen geschmückt, häufig wurden sie mithilfe von "Schusterkugeln" bunt erleuchtet. Dies führte zu eindrucksvollen Lichteffekten, welche die ganze Kirche in eine eigentümliche Stimmung versetzten. Manche Gräber verfügten auch über eine ausgeklügelte Mechanik: Mittels Seilwinden konnte beispielsweise der Leichnam Jesu in das Grab hinabgelassen werden oder die Figur des Auferstandenen erscheinen. Für die gläubigen Beter, die sich vor dem Heiligen Grab versammelt hatten, geschah dies alles wie von "Geisterhand", da die Mechanik von der Rückseite der Kulisse aus bedient wurde.

Eine Inschrift, die auf vielen Heiligen Gräbern zu finden ist, stammt aus dem Propheten Jesaja: "Und seine Ruhe wird herrlich sein" (11,10). Damit weist die Grablegung bereits auf die Auferstehung hin; am Karfreitag lässt sich schon der Ostermorgen erahnen, an dem sich gerade im Grab die Herrlichkeit des Gekreuzigten erweist.

Bild: ©Fotolia.com/animaflora

Das größte Heilige Grab in Deutschland befindet sich in Landshut.

Mancherorts besaßen die Heiligen Gräber üppige Dimensionen. Oft verdeckten ihre Aufbauten den Hochaltar oder nahmen zumindest einen Großteil des Kirchenraumes in Anspruch. Das größte Heilige Grab in Deutschland befindet sich in der Landshuter Kirche St. Ignatius: Es stammt aus dem Jahr 1738 und beansprucht einen Raum von 10 mal 30 Metern, es besteht aus mehr als 60 Einzelteilen.

In der Aufklärungszeit wurden die Heiligen Gräber verboten, die ausladenden Kulissen entsprachen nicht mehr dem Zeitgeist. Stattdessen wurde eine Konzentration auf das Wesentliche angestrebt, wie beispielweise einem Erlass des österreichischen Kaisers Joseph II. aus dem Jahr 1782 entnommen werden kann: Für das Heilige Grab genügte eine Tumba auf dem Altar mit zwei Kerzen, dem Ziborium und einem verhüllten, schlichten Kreuz. Andernorts wurden nach der Säkularisation Grabnischen im unteren Aufbau eines Seitenaltars üblich: Die Grabnische war während des Jahres von einer Blende verdeckt, die in der Karwoche entfernt wurde und den Blick auf die Figur des Leichnam Jesu ermöglichte.

Neuaufschwung im 19. Jahrhundert

Einen Neuaufschwung erlebten die Kulissengräber im 19. Jahrhundert, wobei sie – ganz im Sinne des Nazarenerstils – eher schlicht und mit orientalischen Motiven bemalt waren. In der Wendezeit zum 20. Jahrhundert konnten Heilige Gräber sogar aus dem Katalog bestellt werden. Doch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) und die liturgische Bewegung im Vorfeld des Konzils brachten einen erneuten Einbruch der Frömmigkeit der Heiligen Gräber mit sich. Lange waren die Heiligen Gräber aus vielen Kirchen verschwunden, erst in den letzten Jahrzehnten werden teilweise alte und restaurierte Gräber wieder aufgebaut.

Die Tradition der Heiligen Gräber verdeutlicht das Geschehen der österlichen Tage und macht es in eindrucksvoller Weise offensichtlich. Man hört nicht nur im Evangelium von der Grablegung Jesu, man vollzieht sie selbst in der eigenen Kirche. Und man ist eingeladen, am Abend des Karfreitags und am Karsamstag am Grab des Herrn zu verweilen. Waren die farbenfroh bemalten Kulissen in früheren Tagen eine "Bibel für die Armen", die nicht Lesen und Schreiben konnten, sprechen sie heute die Sinne von vielen Gläubigen an, die nicht nur hören, sondern auch schauen wollen. Die Heiligen Gräber können das österliche Geheimnis nicht ersetzen, aber sie können näher dazu hinführen. Daher ist es wichtig, immer neu zu betonen, dass es nicht um ein bloßes Nachspielen von Tod und Auferstehung Jesu geht. Das Aufbauen der Heiligen Gräber in den Kartagen kann daher als Hilfe und Unterstützung gesehen werden, sich selbst neu mit dem österlichen Geheimnis auseinanderzusetzen und immer mehr zum Glauben an das zu kommen, was Christen weltweit an den österlichen drei Tagen feiern.

Von Fabian Brand