"Viele Überschneidungen zwischen Nationalsozialismus und Christentum"

Historiker fordert: Verhältnis von Kreuz und Hakenkreuz neu bewerten

Veröffentlicht am 20.08.2020 um 11:11 Uhr – Lesedauer: 

Hamburg ‐ Das Verhältnis von Christentum und Nationalsozialismus wird meist als von Gegensätzen geprägt beschrieben. Dieser Sichtweise hat der Historiker Thomas Großbölting nun widersprochen. Seine These: Zwischen Kreuz und Hakenkreuz "lief vieles zusammen".

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Der Hamburger Historiker Thomas Großbölting hat sich für eine Neubewertung des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Christentum ausgesprochen. "Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Kreuz und Hakenkreuz so starke Antipoden waren. 95 Prozent der Deutschen gehörten zwischen 1933 und 1945 einer der beiden großen christlichen Kirchen an. Parallel etablierte sich eine NS-Diktatur, die wesentlich von der Bevölkerung getragen wurde", sagte Großbölting am Dienstag in einem Interview der "tageszeitung". Es habe nicht die christliche Praxis einerseits und nationalsozialistische, auch antisemitische Triebkräfte andererseits gegeben, "sondern da lief vieles zusammen".

Großbölting betonte, dass es seiner Ansicht nach keine Vereinnahmung des Christentums durch den Nationalsozialismus gegeben habe: "Die Vorstellung von der Vereinnahmung der einen Weltanschauung durch die andere stellt die Zusammenhänge historisch falsch dar: Diejenigen, die die nationalsozialistische Bewegung Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre starkmachten, waren in der Regel Christen." Eine Konfrontation von Kreuz und Hakenkreuz habe es vor allem auf institutioneller Ebene gegeben. "Man kämpfte darum, wie man mit christlichen Jugendverbänden umgehen sollte, und mit dem Anspruch der 'Hitlerjugend', alle deutschen Jugendlichen zu integrieren", so der Historiker. Bei den Moral- und Wertvorstellungen habe es jedoch viele Überschneidungen zwischen Nationalsozialismus und Christentum gegeben – "unter anderem beim Antisemitismus".

Großbölting leitet seit 1. August die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Zuvor war er seit 2009 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seit Oktober 2019 untersucht Großbölting mit einem Team Missbrauchsfälle durch Priester und andere kirchliche Amtsträger im Bistum Münster zwischen 1945 und 2018. Am 1. Oktober startet der Historiker als Teil einer überregionalen Forschungsgruppe zudem ein Aufarbeitungsprojekt im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). (stz)