Weiter gravierende Defizite bei Aufarbeitung in Kirche

Missbrauch: Mertes kritisiert Benedikt XVI. und Papst Franziskus

Veröffentlicht am 18.02.2022 um 11:15 Uhr – Lesedauer: 

Frankfurt ‐ Die Kirche müsse sich dazu bekennen, "auf die Täterseite zu gehören", fordert der Jesuit Klaus Mertes. Es gebe Verstrickungen, in denen man auch ohne persönliche Schuld mitwirke an Gewalt und Vertuschung.

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Der Jesuit Klaus Mertes hat mit Blick auf die Missbrauchsaufarbeitung in der katholischen Kirche sowohl Papst Franziskus als auch Benedikt XVI. kritisiert. Bei Franziskus erkenne er die "drängende Sehnsucht, eine Solidarität mit den Opfern zu konstruieren", dabei gebe es darauf überhaupt kein Anrecht, sagte der Ordensmann der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Freitagsausgabe). "Das ist eine Verkennung der kirchlichen Rolle. Die Opfer wollen das nicht", so Mertes weiter. Der Schmerz der Aufklärung dürfe nicht mit dem Schmerz der Opfer verwechselt werden.

Der Jesuitenpater kritisierte zudem die jüngste Erklärung des emeritierten Papstes Benedikt XVI. zum Umgang mit Missbrauchsfällen in seinem früheren Erzbistum München und Freising. Darin äußerte das ehemalige Kirchenoberhaupt unter anderem "tiefe Scham", "großen Schmerz" und eine "aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Missbrauchs". Das sei "viel zu wenig", so Mertes. Er sehe weiterhin "systemische Zusammenhänge des Nichtverstehens". Die Kirche müsse sich dazu bekennen, "auf die Täterseite zu gehören", forderte der 67-Jährige. Es gebe Verstrickungen, in denen man auch ohne persönliche Schuld mitwirke an Gewalt und Vertuschung.

Insgesamt sieht Mertes weiter gravierende Defizite bei der kirchlichen Missbrauchsaufarbeitung. "Die Kirche inszeniert sich als Aufklärerin, aber aus institutionsnarzisstischem Interesse", sagte der Ordensmann. Die entscheidende Frage bleibt aus Sicht des Jesuiten unbeantwortet: "Wie kann Missbrauch so lange stattfinden, ohne dass es jemandem auffällt oder jemand darüber spricht?" Die "große Zukunftsaufgabe" bestehe darin, die "Grammatik der Gewalt" zu durchschauen und Missstände öffentlich anzusprechen.

Mertes traut Kirche keine effektive Aufklärungsarbeit zu

Eine effektive Aufklärungsarbeit traut Mertes der Kirche selbst nicht zu. Bisherige Anstrengungen hätten sich als unzureichend erwiesen. Um eine "unabhängige Person von hohem öffentlichen Ansehen" mit der Gründung einer Kommission zu beauftragen, wie dies etwa in Österreich gemacht wurde, sei es "vermutlich zu spät."

Ausführlich äußerte sich der Jesuit in dem Interview auch zur katholischen Sexualmoral, die zu sehr auf den Geschlechtsakt fixiert sei, und zum Priesterzölibat. Er sprach sich dafür aus, die Ehelosigkeit für künftige Priester freizustellen, weil die Entwicklung der letzten Jahrzehnte oder Jahrhunderte "einen solchen Schatten über die zölibatäre Lebensform gelegt hat, dass man kaum noch glaubwürdig vom Konzept einer religiös motivierten Enthaltsamkeit sprechen kann, selbst dann, wenn sie gelingt".

Mertes sorgte als damaliger Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin wesentlich dafür, dass der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche 2010 öffentlich wurde. Für sein Engagement wurde er im vergangenen Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Rückblickend auf seine damalige Enthüllung sagte Mertes in dem Interview: "Am Ende hatten alle begriffen: Wenn man sexualisierte Gewalt aufklären will, muss man bereit sein, den Preis der Stigmatisierung der Institution zu bezahlen." Bevor er den Skandal 2010 öffentlich machte, habe es ein Schweigen in der Kirche und in der Gesellschaft zu diesem Problem gegeben, man habe es weggeschoben und ausgelagert. (cbr/tmg/KNA)

18.02.2022, 17.55 Uhr: Ergänzt um weitere Details