Gucklöcher ermöglichten Aussätzigen Teilnahme an Gottesdienst

Hagioskope: Der heilige Durchblick

Veröffentlicht am 06.11.2022 um 12:04 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Angst vor Ansteckung war groß: Im Mittelalter durften Leprakranke nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und waren auch vom Besuch der Liturgie ausgeschlossen. Gucklöcher in den Wänden von Kirchen, sogenannte Hagioskope, schufen hier Abhilfe. Die Geschichte des heiligen Durchblicks.

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In manchen Kirchen, deren Geschichte bis in das Mittelalter zurückreicht, finden sich heute kleine Fenster auf Augenhöhe in der Nähe des Altarraums, die meist nachträglich in das Mauerwerk gebrochen wurden. Bei dieser architektonischen Besonderheit handelt es sich um ein sogenanntes Hagioskop. Diese Bezeichnung setzt sich aus den altgriechischen Wörtern für "heilig" und "schauen" zusammen und könnte als "Fenster zum Heiligen" übersetzt werden. Das drückt treffend aus, was der Zweck eines Hagioskops ist: Es soll einem Menschen, der vor den Kirchenmauern steht, einen Blick in das Gotteshaus und die dort gefeierte Liturgie verschaffen.

Dieser heilige Durchblick war im Mittelalter vor allem für Aussätzige von großer Bedeutung, weshalb Hagioskope auch Lepraspalten genannt werden. Mit dem Aufkommen großer Epidemien in Europa ab dem zwölften Jahrhundert wuchs die Zahl der mit Lepra infizierten Personen, die sich zur Vermeidung der Ansteckung anderer von der Gemeinschaft absondern mussten. Sie lebten meist vor den Städten in einfachen Hütten auf den Feldern, mussten ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestreiten und durften auch Kirchen nicht betreten. Die Hagioskope boten den Kranken die Möglichkeit, die Messfeier wenigstens durch ein kleines Guckloch mitzuverfolgen. Es ist zudem wahrscheinlich, dass in bestimmten Fällen den Aussätzigen mit einer Gerätschaft die Kommunion gereicht wurde.

Blick auf Lepra wandelte sich

Mit dem Anstieg der Lepraepidemien im Mittelalter stieg auch die Zahl der Erkrankten, die spirituelle Begleitung benötigten. Daher erlaubte das Dritte Laterankonzil 1179 die Einrichtung von Leprahäusern mit eigenen Priestern, Kirchen und Friedhöfen. Diese Leprosorien standen in einigen Fällen unter dem Patronat des Hiob oder des Lazarus, von denen die Bibel berichtet, sie hätten selbst unter Aussatz gelitten. Darin zeigte sich auch ein Wandel im Blick auf die Krankheit: Wurden die Leprösen zunächst als Sünder angesehen, die Gott habe bestrafen wollen, verstand man den Aussatz fortan als eine vom Himmel auferlegte Prüfung. So kümmerte sich die Kirche verstärkt um das Seelenheil der Erkrankten.

Ein Hagioskop in einer Kirche
Bild: ©Wikiwal / Gemeinfrei (CC BY-SA 3.0)

Die Kirche im Midlum (Landkreis Leer) hat ein Hagioskop in der Apsis.

Da sich Einrichtungen für Leprakranke zumeist in den mittelalterlichen Städten befanden, bestand in den dortigen Kirchen keine Notwendigkeit für Hagioskope. Doch da die Plätze in den Leprahäusern begrenzt waren, konnten in ihnen nicht alle Kranken aufgenommen werden. Einige mussten ihr Leben daher als Wanderer und Bettler fristen, die zur Erfüllung ihrer geistlichen Bedürfnisse auf die Schaulöcher in den Dorfkirchen angewiesen waren. In der Tat finden sich Lepraspalten in der Regel in Gebieten, die im Mittelalter dünn besiedelt waren. In Deutschland sind sie besonders im heutigen Niedersachsen, aber auch in anderen Bundesländern im Norden und Westen anzutreffen. Verbreitet waren Hagioskope zudem in Skandinavien, den heutigen Niederlanden und in Großbritannien.

Die kleinen Fenster mit Blick auf den Altar dienten jedoch nicht nur dazu, Leprakranken einen Blick auf die Eucharistie zu ermöglichen. Auch Gläubige, die aufgrund einer schweren Sünde für eine bestimmte Zeit aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen waren und eine Kirche nicht betreten durften, konnten auf diese Weise den Gottesdienst verfolgen. Deshalb werden Hagioskope auch Pönitenzfenster genannt. Zudem nutzten Personen, die sich freiwillig aus der Gemeinschaft mit anderen Menschen ausgeschlossen hatten, die Spalten im Mauerwerk zum Verfolgen der Liturgie, wie etwa Einsiedler. Inklusen ließen sich in kleinen Zellen in oder an Kirchen einmauern, um ein Leben in großer Abgeschiedenheit, Askese und Gebet zu führen. Auch für sie gab es kleine Fenster, die ihnen einen Blick auf den Altar und den Empfang der Kommunion erlaubten.

Ein vermauertes Hagioskop
Bild: ©Wikiwal / Gemeinfrei (CC BY 4.0)

Vermauertes Hagioskop (links) und vermauerte Frauentür (rechts) in der Nordwand der Kirche in Mitling-Mark im Landkreis Leer.

Die Bedeutung der Hagioskope für das religiöse Leben erklärt sich vor allem aus der mittelalterlichen Frömmigkeit: Der Empfang der Kommunion war in jener Zeit die Ausnahme – eine Folge der ehrfürchtigen Scheu vor dem Altarsakrament, die viele Gläubige entwickelt hatten. Der Kommuniongang war unter anderem an eine verpflichtende Beichte und weitere Voraussetzungen geknüpft, die nicht alle erfüllen konnten. Ein Ausweg aus dieser Situation war die sogenannte "Augenkommunion" durch die Betrachtung des gewandelten Leibes Christi. Aus diesem Bedürfnis heraus entwickelte sich im Mittelalter die Elevation der Hostie während des Hochgebets. Durch eine Lepraspalte war diese meist gut zu beobachten.

Wiederentdeckung von Hagioskopen im 19. und 20. Jahrhundert

Doch nicht alle Hagioskope sind an der Außenwand einer Kirche angebracht. Einige ebenfalls so bezeichnete Öffnungen befinden sich im Inneren eines Gotteshauses. So gibt es Hagioskope, die innerhalb einer Kirche vom Seitenschiff aus den Blick durch einen Durchbruch in einer Mauer oder Säule auf den Altar freigeben. Diese Fenster dienten etwa dazu, die Betätigung von Glocken an bestimmten Stellen der Liturgie durch eine Person zu koordinieren, die auf dem entsprechenden Platz saß. Manchmal werden auch Öffnungen in einem Reliquienschrein oder in einem Heiligengrab als Hagioskope bezeichnet. Sie dienten jedoch nicht zum Hindurchblicken, sondern stellten gemäß dem mittelalterlichen Verständnis der Heiligenverehrung eine heilsbringende räumliche Einheit her.

Mit dem Rückgang der Lepraepidemien im 16. Jahrhundert verloren die heiligen Durchblicke an den Außenwänden der Kirchen zunehmend an Bedeutung. Mit der Zeit wurden sie meist zugemauert oder auf andere Art geschlossen. Erst im 19. und 20. Jahrhundert kam es in einigen Gotteshäusern bei Renovierungen zur Wiederentdeckung und Freilegung der Lepraspalten. In modernen Kirchengebäuden findet man Hagioskope selten – doch es gibt Ausnahmen: Etwa die Kirche Frieden Christi in Bonn-Bad Godesberg. In dem in den 1970er-Jahren errichteten Gotteshaus wurde bewusst ein kleines Fenster vor dem Tabernakel eingebaut. Durch den an eine Lepraspalte erinnernden Durchbruch zur Straße hin, haben Passanten einen Blick auf das Ewige Licht. Wer rasch an der Kirche vorbeieilt, kann so auf das Allerheiligste blicken und sich an die Gegenwart Gottes im Alltag erinnern.

Von Roland Müller