Frauen auf der Kanzel bringen ihre Erfahrungen in das Glaubensleben ein

Theologin: Ohne Predigerinnen fehlt der Kirche etwas

Veröffentlicht am 15.05.2023 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Berlin ‐ Zum Predigerinnentag steigen Katholikinnen auf die Kanzel und kämpfen für ihr Recht auf die Predigt. Welche Rolle spielen Predigerinnen in anderen Konfessionen? Die Berliner Homiletikerin Ruth Conrad wirft im katholisch.de-Interview einen Blick in die Geschichte und entdeckt unerwartete Vielfalt.

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Am Gedenktag der Apostelin Junia, dem 17. Mai, treten deutschlandweit Frauen auf die Kanzel und predigen – obwohl sie das in der Eucharistiefeier eigentlich nicht dürfen. In vielen protestantischen Gemeinschaften ist das anders. Welche Rolle spielen Predigerinnen dort? Die Berliner Homiletikerin Ruth Conrad spricht im Interview über Zugangsvoraussetzungen, Charismen und alte weiße Männer.

Frage: Frau Conrad, wo gibt es Frauen als Predigerinnen?

Conrad: Die Geschichte der Predigt, wie wir sie in Theologie und Kirche bislang erzählen – das ist ja weitgehend eine Geschichte von predigenden Männern, oft Männern aus der gesellschaftlichen Elite, um genau zu sein. Das hängt natürlich auch mit der Überlieferung und der Quellenlage zusammen. Erst sehr allmählich fängt die Forschung an, nach predigenden Frauen zu suchen. Die gibt es in der Predigtgeschichte sehr viel öfter, als man glaubt. Wenn man einmal anfängt, systematisch danach zu suchen. Da gibt es noch viel zu entdecken, gerade wenn man die Geschichte der Predigt als Teil einer Kultur- und Sozialgeschichte des Christentums erzählen möchte.

Frage: Wo denn?

Conrad: Schon für das Mittelalter wissen wir von Äbtissinnen, die liturgische und sakramentale Handlungen übernommen haben und auch im Gottesdienst gepredigt haben. Zum Beispiel die Äbtissinnen von Las Huelgas in Spanien. Dann gab es etwa mit dem radikalen Pietismus Strömungen mit einem starken Laien-Element, also auch einem Spielfeld für predigende Frauen. Wir kennen das dann besonders aus der methodistischen Bewegung. In den USA beispielsweise. John Wesley, einer der Begründer dieser Bewegung, ließ Frauen predigen. Schon seine Mutter hatte gepredigt. Doch nach seinem Tod haben seine Nachfolger die Frauenpredigt wieder verboten. Dann gab es sehr wirkmächtige schwarze Predigerinnen, auch mit Einfluss auf die Frauenbewegung. Man denke an Jarena Lee, die erste schwarze Predigerin der African Methodist Episcopal Church. Hier in Deutschland, in der evangelischen Kirche, haben Frauen besonders in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Pfarramtsaufgaben übernommen, also auch gepredigt. Weil die Männer ja nicht da waren. Die ausgebildeten Theologinnen mussten sich dann, auch wenn sie einen Predigtauftrag bekamen, noch lange "Vikarin" nennen. Katharina Staritz ist hier zum Beispiel ein wichtiger Name. Auf solche Spuren kommt man recht schnell. Dass Frauen predigen, war zwar selten der Normalfall, aber sie haben es doch immer wieder getan.

Frage: Wie kommen Frauen zum Predigen?

Conrad: Sie predigen historisch gesehen oft dann, wenn ein rechtliches oder machtpolitisches Fenster dafür offen ist, wenn Männer nicht zur Verfügung stehen oder wenn man gedacht hat, Männer allein können die Ziele nicht erreichen, die eine neue Gruppierung erreichen sollte. Spannend ist ja, dass sich Frauen über weite Teile der Christentumsgeschichte nicht über das Amt für das Predigen legitimieren konnten. Das gilt besonders für die verfassten protestantischen Kirchen, aber auch für die katholische Kirche mit einem noch stärkeren Amtsbegriff. Doch auch in vielen evangelischen Kirchen war die Predigtaufgabe oft mit dem Pfarramt verknüpft – und das war Frauen lange Zeit verwehrt. Deshalb haben sie sich andere Legitimationen zum Predigen gesucht. Das waren dann vor allem die eigene Biografie und die eigenen Glaubenserfahrungen, die eigene Berufung oder Erfahrungen mit Gott im Leben. Es hat ihnen oft geholfen, wenn eine Glaubensgemeinschaft noch nicht so durchinstitutionalisiert war, denn – etwas zugespitzt: Je verfasster eine Kirche war, desto mehr Hürden für Frauen. Zählte anfangs das Charisma, wurden mit der Einsetzung von Ämtern Zugangsvoraussetzungen geschaffen, die immer stärker reguliert wurden. Was in der Regel Frauen oder Nicht-Akademiker ausschloss.

Bild: ©Privat/Adobe-Stock/korkeng

Ruth Conrad ist Professorin für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität in Berlin

Frage: Lässt sich das bis heute verfolgen?

Conrad: Innerhalb der katholischen Kirche wird diese Frage gegenwärtig ja intensiv diskutiert. Aber schauen wir mal auf die Evangelikalen in den USA: Joyce Meyer etwa ist eine sehr einflussreiche Predigerin, Joel Osteens Frau Victoria predigt mit ihm in der größten lokalen Kirche der USA, der Lakewood Church, dann noch Paula White, um nur drei Frauen zu nennen. Unabhängig davon, wie man deren Predigten nun bewertet. Bei den Evangelikalen und Pfingstkirchen sind persönliche Erfahrungen sowieso sehr wichtig, da kommen auch eher Frauen vor. Wobei es natürlich bis heute auch evangelikale Gemeinschaften gibt, in denen Frauen nicht predigen "dürfen". In den deutschsprachigen Landeskirchen haben Frauen schrittweise den Weg in das volle Pfarramt mit Ordination bekommen. Bedeutung als Predigerinnen gewann zum Beispiel Dorothee Sölle, dann aber auch Margot Käßmann oder jetzt Annette Kurschus. Aber, um das nochmal zu betonen: Nur, weil Frauen nicht zum Pfarramt zugelassen waren, war ihre Predigt nicht unbedingt unmöglich. Und über die Denkfigur des Priestertums aller Getauften stand seit Luther eine Denkfigur zur Verfügung, die die Zulassung von Frauen zu Ämtern historisch ermöglichte. Das ist doch erkennbar anders als das Amtsverständnis im Katholizismus und der damit verbundene gestufte Ausschluss von der Predigtaufgabe in der katholischen Kirche.

Frage: Was zeichnet Predigten von Frauen aus?

Conrad: Eine sehr schwierige Frage. Ich kenne das, dass Frauen nach einer Predigt – durchaus als Lob – gesagt wird, so hätte nur eine Frau predigenden können. Aber woran will man das festmachen? Und auf welcher Grundlage? Und was macht dagegen eine spezifisch männliche Predigt aus? Und läuft man nicht Gefahr, Dichotomien zu reproduzieren?

Frage: Wenn wir eben über die Erfahrung als Legitimation gesprochen haben, würde natürlich die Mutterschaft als spezifisch weibliche Erfahrung naheliegen. Frauen wird ja auch oft ein spirituellerer Zugang zum Glauben nachgesagt.

Conrad: Da muss man gut aufpassen, dass man nicht in Klischees verfällt. Von wegen: "Frauen sind für die Gefühle zuständig." Beim mütterlichen Aspekt wird es dann ganz heikel. Was soll das sein? Die ersten ordinierten Frauen in Deutschland waren eher bemüht, dass ihre Predigten eben nicht so waren. Dagegen war der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, dafür bekannt, in seinen Predigten auch emotional als Mensch in Erscheinung zu treten. Also – woran will man das festmachen, ohne Klischees und Stereotypen zu wiederholen?

„Die Predigt ist immer eine Vermittlungsbemühung zwischen Text und Situation, also der Bibel und der Lebenswelt, durchaus in einer Kreisbewegung. Und die Person, die die Vermittlung zu leisten hat, spielt dabei doch eine erhebliche Rolle.“

—  Zitat: Ruth Conrad

Frage: Gibt es darauf eine Antwort?

Conrad: Ich würde die Frage gerne rumdrehen. Die Frage, die sich stellt, ist doch eher: Was fehlt, wenn Frauen nicht predigen? Der Erfahrungsschatz von der Hälfte der Menschheit. Die Predigt ist immer eine Vermittlungsbemühung zwischen Text und Situation, also der Bibel und der Lebenswelt, durchaus in einer Kreisbewegung. Und die Person, die die Vermittlung zu leisten hat, spielt dabei doch eine erhebliche Rolle. Und auch Erfahrungen haben immer auch etwas Unvertretbares. Wenn dabei die Perspektive von Frauen fehlt, fehlen irgendwann auch bestimmte Lebenserfahrungen bzw. kommen nur in einer sehr einseitigen Deutung, nämlich der von Männern zur Sprache. Aber das vergleichbare Problem stellt sich auch, wenn immer nur Menschen mit akademischem Hintergrund predigen oder Menschen aus dem gleichen sozialen Milieu. Das wirkt sich auch auf jede und jeden einzelnen aus: Ich bin in einer schwäbischen Landgemeinde, pietistisch geprägt, groß geworden. Als dort die erste Pfarrvikarin in die Gemeinde kam, war das meine erste Begegnung mit einer Frau auf der Kanzel. Da war ich schon in der Nähe des Abiturs. Es ist also eine Frage des gesamten Settings. Das mussten und müssen Frauen erstmal aufbrechen.

Frage: Da scheint aber noch Luft nach oben.

Conrad: Dieser Eindruck liegt aber auch daran, dass wir beide uns jetzt stillschweigend darauf verständigt haben, nur von der Predigt im Gottesdienst auszugehen. Doch die zahlreichen Zugangsschwierigkeiten für Frauen haben dazu geführt, dass Frauen die religiöse Rede transformiert haben und andere Öffentlichkeiten geschaffen haben, beispielsweise Frauenkreise und Hauskreise. Und neue religiöse Ausdrucksformen fanden – Tagebücher, Autobiographien, Lieder, das weite Feld der Erbauungsliteratur. Diese Bereiche sollte man nicht unterschätzen. Da haben Frauen ihre Erfahrungen und Perspektiven geteilt. Wenn man das liest, merkt man: Das sind auch "Predigten". Das ist religiöse Rhetorik. Hier teilen Menschen ihre Erfahrungen, ihren Glauben. Nur in einem anderen Rahmen. Frauen haben sich ihre Räume gesucht. Und tun es bis in die Gegenwart. Denken Sie an die Christfluencerinnen. Die erreichen mit ihrer religiösen Rede und ihren Erfahrungen zum Teil Öffentlichkeiten, die größer sind als eine Gottesdienstgemeinde. Diese Bereiche müssten in der Predigtforschung und in der Debatte um Frauenpredigten viel intensiver wahrgenommen werden. Wir schauen oft nur auf den Sonntagmorgen und sehen dort in etlichen Christentümern eben bis in die Gegenwart nur Männer. Das ist aber nicht das ganze Bild.

Frage: Also ein Ersatz für die Predigt auf der Kanzel?

Conrad: Keineswegs! Kein Ersatz, sondern eine andere Form. Die aber den vollen Zugang zur Kanzel zumindest aus meiner evangelischen Sicht nicht ersetzt. Als Protestantin würde ich sagen: Frauen sollen vollumfänglichen Zugang zur Predigt haben. Ihre Erfahrungen sind Teil des Christentums und des christlichen Glaubens. Ein Teil, der ohne Predigten von Frauen fehlt beziehungsweise nur durch die Perspektive anderer zur Sprache kommt.

Von Christoph Paul Hartmann