Arielles Wunsch nach der unsterblichen Seele
"Heute und hier wünsche ich mir, ein Mensch zu sein!" Diese Zeile aus dem Disney-Klassiker kennen die meisten – und falls man sie aus Kindertagen vergessen hat, wirkt die Neuverfilmung, die gerade im Kino läuft, als Auffrischung. Hört man das Lied, denkt man direkt an die etwas verstaubte Erzählung von einem Prinzen, für den Arielle ihre Flosse und ihre Stimme aufgibt, damit sie als Mensch an seiner Seite leben kann. Auch im Märchen von Hans Christian Andersen, auf dem die beiden Filme beruhen, geht es darum. Oder?
Nicht ganz. Zunächst einmal hat auch dieses Märchen Vorläufer in Legenden und der Mythologie. Und schon hier ist der Wunsch des Wasserwesens nicht so eindimensional. Da gibt es beispielsweise die Sage um Undine aus dem vierzehnten Jahrhundert. Sie seht sich nach einer Seele und bekommt diese nur, wenn sie einen Menschen heiratet. Ist dieser untreu, muss er sterben.
Kirche und Christentum in Andersens Märchen
Im Märchen von Andersen, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und damit immer noch deutlich älter ist als die Disney-Interpretationen, kommt bei dem Wunsch der Meerjungfrau noch die Suche nach Gott und dem Christentum hinzu. Das lässt sich schon zu Beginn der Geschichte im Original erahnen. Die erste Hälfte ist der Disney-Variante noch sehr nah. Der einzige Unterschied: In der Beschreibung von Umgebung und dem Meer werden im Märchen ständig Kirchen, Orgeln oder Klöster als Vergleich herangezogen: "Viele Kirchtürme müssten aufeinandergestellt werden, um vom Grunde bis über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnt das Meervolk." In den Filmen fehlen diese Bezüge gänzlich. Beim Klassiker sieht man noch einen Bischof bei der Hochzeit, in der Realverfilmung gibt es auch den nicht mehr. Arielle rettet Prinz Erik vor einem Schiffsunglück anders als im Film direkt vor einem Kloster.
Die kleine Meerjungfrau interessiert sich also für einen Menschen. Und nicht nur das, sie findet das gesamte Menschsein interessant. Hier beginnt die unbekanntere – aber eigentlich viel interessantere – Geschichte des Originals fundamental von der aus den Disney-Filmen abzuweichen.
Die kleine Meerjungfrau setzt sich im Märchen bei ihrer Suche nach dem Menschsein mit dem Sterben auseinander und fragt ihre Großmutter, ob Menschen ewig leben, wenn sie nicht gerade bei einem Schiffsunglück ertrinken. Meermenschen werden nach dem Tod zu Schaum auf dem Wasser. "'Wir […] haben nicht einmal ein Grab hier unten unter unseren Lieben. Wir haben keine unsterbliche Seele, wir erhalten nie wieder Leben. […] Die Menschen dagegen haben eine Seele, die ewig lebt, nachdem der Körper zur Erde geworden ist.'", sagt die ältere Meerjungfrau. Mehr noch als den Prinzen wünscht sich die kleine Meerjungfrau nun, eine unsterbliche Seele zu bekommen und bei Gott zu sein.
Das Leben nach dem Tod
Es wird auch eine ziemlich genaue Beschreibung geliefert, wie das Leben nach dem Tod aussieht. So ist von "unbekannten, herrlichen Stätten" bei den Sternen die Rede, wo es Musik, Blumen und eine rote Sonne gibt.
Die kleine Meerjungfrau stellt sich nun eine Frage, die auch heute unter Theologen wieder heiß diskutiert wird: Haben Tiere eine Seele (die Meermenschen im Märchen werden eher zu den Fischen gezählt)? Wenn nein, warum nicht? Und noch mehr Themenfelder der modernen Theologie werden aufgeworfen. Die Exotheologie beschäftigt sich mit der Frage nach außerirdischen menschlichen Lebensformen. Wie sieht es bei denen mit der Seele aus? Ist Jesus auch für sie gestorben? Schnell kommt der Gedanke, ob diese Überlegungen nicht nur für Aliens, sondern auch für Bewohner eines eventuell noch nicht entdeckten Atlantis gelten würden.
Die Taufe als Eingangstor in den Himmel?
Die nächste wichtige Frage, die im Märchen aufgeworfen wird, ist die nach der Ehe und damit auch der vorausgehenden Taufe. Kommt nur in den Himmel, wer getauft ist? Und können nur Menschen getauft werden? Arielle sieht darin, dass sie Meerwesen und nicht Mensch ist, ein Hindernis für ein Leben bei Gott. Das möchte sie umgehen, indem sie ein vollwertiger Mensch wird. "'Nur wenn ein Mensch dich so lieben würde, dass du ihm mehr als Vater und Mutter wärest, wenn er mit all seinem Denken und all seiner Liebe an dir hinge und den Priester seine rechte Hand in deine legen ließe mit dem Gelöbnis der Treue hier und in alle Ewigkeit, dann flösse seine Seele in deinen Körper über, und auch du erhieltest Anteil an der Glückseligkeit der Menschen'", erklärt ihr die Großmutter.
Damit sie als Mensch Erik heiraten und so eine Seele erhalten kann (denn darum geht es ihr, wie im Märchen immer betont wird, jetzt hauptsächlich, Erik wird eher Mittel zum Zweck), begibt sie sich in die Hände der Meerhexe.
Diese Stelle ist die einzige, in der auch die Disney-Filme auf das Thema der Seele anspielen, allerdings auf eine ganz andere Art und Weise als das Märchen. Die Meerhexe ist bei Disney eher der Teufel, der die Seelen der Meermenschen fängt (hier scheinen diese eine solche zu haben). Ursula singt von den "armen Seelen in Not", denen sie "hilft". In Wirklichkeit will sie die Hilfesuchenden aber in ihren Seelengarten einsperren, in dem sie für immer feststecken und niemals in Gottes Nähe kommen können. Dieser Faden wird bei Disney aber nicht weiter aufgegriffen.
Arielle muss bei Disney dann ihre Stimme abgeben, um den Prinzen erobern zu können. Dass sie die Stimme für einen Mann hergibt, wird bei den Disney-Filmen oft kritisiert und das hat sich auch in der Neuverfilmung nicht wirklich geändert, auch wenn hier ihr eigenes Interesse an der Menschlichkeit etwas stärker herausgestellt wird. Im Märchen gibt sie ebenfalls ihre Stimme hin. Hier tut sie es aber für den Erhalt einer Seele und damit ihr eigenes Leben bei Gott. Natürlich kann auch das vielschichtig interpretiert werden. Gibt man seine eigene Stimme, um der Kirche zu gefallen?
Erhalt der Seele durch gute Taten
Die Frage nach der Notwendigkeit der Taufe beziehungsweise Ehe und des Menschseins wird im Märchen aber zum Schluss noch einmal aufgegriffen und hier tatsächlich durch eine überraschende Wendung neu beantwortet. Damit weicht Anderson nicht nur von den Disney-Filmen ab, sondern unterscheidet sich auch diametral von der seiner Geschichte vorausgehenden Undine-Sage. Prinz Erik heiratet eine andere, was eigentlich bedeutet, dass die Meerjungfrau zu Schaum wird und doch keine Seele erhält. Aber das tritt nicht ein. Die Meerjungfrau wird vor die Wahl gestellt: Prinz Erik töten und wieder Meerjungfrau werden oder für immer zu Schaum werden. Sie aber opfert ihr eigenes Leben für Prinz Erik. Diese Tat übersteigt die Notwendigkeit jedes Sakraments und der Zugehörigkeit zum Christentum. Sie wird zu einem Luftgeist: "'Die Töchter der Luft haben auch keine unsterbliche Seele, aber sie können sich selbst durch gute Taten eine unsterbliche Seele schaffen.'"
Jede gute Tat bringt sie also der Seele näher, es geht auch ohne die Hochzeit. Auch der Unterschied zwischen Mensch, Tier und Fabelwesen ist hier nicht mehr wichtig: "'Du arme kleine Seejungfrau hast mit ganzem Herzen nach demselben gestrebt wie wir. Du hast gelitten und geduldet, hast dich zur Luftgeisterwelt erhoben. […] Nach dreihundert Jahren schweben wir so in das Reich Gottes hinein!'"
Andersens privater Hintergrund
An seinem Höhepunkt spricht das Märchen auch zum ersten Mal explizit von Gott. Eine weitere Dimension bekommt die Geschichte von Hans Christian Andersen, wenn man annimmt (wie es viele Wissenschaftler tun), dass er queer war und sich eher zu Männern hingezogen gefühlt hat. In Arielle könnte sich der Wunsch widerspiegeln, durch gute Taten Gott näher zu kommen, egal wer man ist oder wen man liebt.
Wer also demnächst im Kino sitzt und Arielles berühmten Satz: "Das ist der Preis, ich zahl ihn gern, wär ich am Ziel, am Ziel dort oben" hört, findet vor dem Hintergrund des Märchens von "Der kleinen Meerjungfrau" vielleicht eine ganz neue Bedeutsamkeit im bekannten Klassiker.