Norbert Lüdecke über Bischöfe im Ruhestand und päpstlichen Primat

Desorientierte Eminenz? Kardinal Müllers Papstkritik in der Kritik

Veröffentlicht am 19.10.2023 um 00:01 Uhr – Von Norbert Lüdecke – Lesedauer: 

Bonn ‐ Kardinal Müller ist nicht glücklich über den Papst. Franziskus habe ein falsches Verständnis vom Papst- wie vom Bischofsamt, kritisiert der ehemalige Glaubenspräfekt. Der Kirchenrechtler Norbert Lüdecke widerspricht: Der Papst kann tun, was er will – und kein Kardinal ist sein Kontrolleur.

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Gerhard Ludwig Kardinal Müller, in Rom lebend und derzeit Mitglied der Weltbischofssynode, hat der Rheinischen Post Anfang Oktober ein Interview gegeben. Nach seinem Eindruck gebe es in der Kirche in Deutschland eine gestiegene "Desorientierung" und bestimmte häretische, also irrgläubige Positionen. Aus dem Munde dieses Kardinals überraschen solche Einschätzungen nicht. Stutzig wird man, besonders als Kirchenrechtler, an anderer Stelle, nämlich dort, wo Müller kritisiert, wie der Papst mit den Erzbischöfen Gänswein und Woelki umgeht. Der erste habe eine würdige Aufgabe verdient, der andere keinerlei Untersuchung, weil er schlicht ohne jede Schuld sei.

Der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke
Bild: ©KNA/Harald Oppitz (Archivbild)

Norbert Lüdecke hatte ab 1998 den Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Universität Bonn inne. Seit 2022 ist er emeritiert.

Müller sieht dabei ein falsches Verständnis des Bischofs- wie des Papstamtes am Werk: Ein Papst könne "nicht alles tun und lassen, wie es gerade seinem persönlichen Gusto entspricht". Bischöfe würden von Christus berufen und nicht wie Minister ernannt. Der Papst erkenne eigentlich nur nach einem bestimmten Verfahren die Auswahl der Gremien – in der Ortskirche und der Bischofskongregation – an. Er könne einen Bischof auch nicht willkürlich ab- oder versetzen; das wäre ein "autoritäres Missverständnis" des Papsttums. Das sind Passagen, die den Kirchenrechtler staunen lassen – nicht nur inhaltlich, sondern auch angesichts des unverhohlenen öffentlichen Vorwurfs gegen Papst Franziskus durch einen ihm doch in ganz besonderer Weise gehorsamspflichtigen Kardinal. Aber der Reihe nach.

Die Weihe ist ein Stand, kein Amt

Zunächst eine kleine, aber sehr wichtige und hilfreiche Differenzierung zum Amtsbegriff: Müller verwendet ihn, wie in Kirche und Dogmatik leider üblich, nicht nur für konkrete Kirchenämter, sondern auch für den Weihe-, hier den Bischofsstand. Nun gelangt ein Mann mit der Weihe zwar in einen Stand, hat damit aber noch kein Amt mit gegebenenfalls jurisdiktionellen Kompetenzen. So gehören Gänswein und Woelki beide dem Bischofsstand an, aber nur letzterer hat aktuell Kirchenämter inne, konkret die Ämter des Erzbischofs von Köln und des Metropoliten der Kölner Kirchenprovinz. Gänswein hingegen hat – zu seinem und anderer Leidwesen – zurzeit kein Amt mehr. Er ist wie Titularbischöfe generell ein Bischof zur besonderen Verwendung (zbV), derzeit allerdings ohne.

Erzbischof Georg Gänswein am 4. Juni 2023 in Bochum-Stiepel.
Bild: ©KNA/Andreas Oertzen (Archivbild)

Vorerst ist Erzbischof Georg Gänswein ohne Amt in der Kirche.

Auch wer zum Priester geweiht wird, hat damit noch kein Amt, sondern bekommt ein solches erst nach der Weihe übertragen. Dass in Kirche und Theologie trotzdem gerne vom Priesteramt oder allgemein vom geistlichen Amt im Unterschied zu den Laien gesprochen wird, liegt wohl daran, dass dies den hierarchischen Unterschied deutlicher macht, weil mit "Amt" eher Positionsvorrang und konkrete Machbefugnis assoziiert werden. Kardinal Meisner etwa hat immer darauf bestanden, von Priesteramtskandidaten zu sprechen, statt sachlich richtiger von Priesterkandidaten. Damit können sich die Kandidaten schon während ihrer Formatierung in ihre spätere "set-above-Existenz" als Kleriker einfühlen.

Nun zu Papst und Bischöfen: Der von beiden Vatikanischen Konzilien gelehrte Jurisdiktionsprimat des Papstes ist im geltenden Kirchenrecht auch für die Bestellung von Bischöfen umgesetzt. Ob ein Priester tatsächlich von Christus zum Bischof berufen ist, entscheidet allein und souverän der Papst. Wer daher ohne dessen Erlaubnis die Bischofsweihe spendet oder empfängt, zieht sich die Exkommunikation zu. Ob der Papst einen gültig und erlaubt geweihten Bischof nach der Weihe etwa zum Diözesanbischofs macht, entscheidet selbstverständlich wiederum er allein. Personen oder (sehr selten) Gremien der Ortskirchen und immer kuriale Behörden mögen an der Auswahl geeigneter Kandidaten beteiligt sein, die Amtsübertragung ist und bleibt aber ein souveräner primatialer Akt. Gleiches gilt für die Beurteilung und Entscheidung, ob ein Bischof ein ihm vom Papst einmal übertragenes Amt behalten soll.

Der Papst entscheidet nach Gutdünken

Um es ihm zu nehmen, kann der Papst rudimentäre Verfahrensregeln anwenden, muss dies aber nicht. Denn als dominus canonum ist er an seine eigenen Gesetze nicht gebunden. Und anders als Kardinal Müller behauptet, erstreckt sich die volle und höchste Leitungs- und Disziplinargewalt des Papstes nach dem Dogma des Ersten Vatikanischen Konzils auch auf alle und jeden einzelnen Hirten auf der ganzen Welt. Nach der Erläuternden Vorbemerkung zur Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanums kann der Papst als höchster Hirte der Kirche seine Amtsvollmacht zudem sehr wohl und jederzeit "nach Gutdünken" (ad placitum) ausüben. Diözesanbischöfe bleiben für den Papst bezüglich Erhalt wie Behalt ihres Amtes komplett disponibel: Er kann geben oder nehmen, wie er meint, dass es dem Wohl der Kirche am besten dient. Wer vor diesem Hintergrund als Bischof "die ekklesiologische Dimension" seines Standes oder Amtes so versteht, dass der Papst nur noch als Paraphier-Onkel der Kurie erscheint, scheint dann doch einem arg überhöhten Selbstverständnis zu erliegen.

Benedikt XVI. schreibt.
Bild: ©KNA (Symbolbild)

Was der Papst schreibt, was der Papst unterschreibt, das entscheidet allein er selbst. Ein "Paraphier-Onkel" der Kurie ist er nicht.

Ein solches Verständnis verwundert umso mehr bei einem Ex-Diözesanbischof und Kardinal. Hat Müller doch vor der Übernahme des von Papst Johannes Paul II. erhaltenen Amtes des Diözesanbischofs von Regensburg jedem Papst nicht nur "immerwährende Treue", sondern auch geschworen, "der freien Ausübung der primatialen Gewalt des Papstes in der ganzen Kirche … willfährig" sowie bemüht zu sein, "seine Rechte und Autorität zu fördern und zu verteidigen" (Treueid der Bischöfe). Und als "Geschöpf des Papstes" hat er anlässlich seiner Kreierung zum Kardinal durch die freie Entscheidung des Papstes diesem und allen rechtmäßigen Nachfolgern erneut eidlich versprochen, "von jetzt an und für immer, solange ich lebe …, dauerhaft Gehorsam zu üben" (Treueid der Kardinäle). Erst danach hat er kniend vom Papst das Rote Birett empfangen.

Kardinäle sind besondere Helfer des Papstes, nicht seine Mitregenten oder gar öffentliche Kontrolleure seiner Amtsführung. Natürlich ist es eine Sache, über die Höchstgewalt des Papstes zu dozieren oder sie als Präfekt einer Behörde hinter sich zu wissen, als von ihr begrenzend getroffen zu werden, wie Kardinal Müller, der ohne Angabe eines Grundes (auf die kein Gläubiger einen Anspruch hat) 2017 als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre entlassen wurde. Wer solches nicht als grundkatholische Demutsübung, sondern als narzisstische Kränkung empfindet und sich auch ohne sein entsprechendes früheres Amt von Ketzergerüchen umweht fühlt, kann bisweilen auch ansonsten in Wahrnehmung und Urteilsvermögen eintrüben – eben desorientiert werden.

Von Norbert Lüdecke