"Verzweiflung, Perspektivlosigkeit, Tragödien"

Spiegel warnte vor einer verzerrten Wahrnehmung: Weniger als vier Prozent der knapp 60 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene lebten in der EU. "Die häufig anzutreffende Vorstellung, dass ein Großteil der Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa sei, geht an der Wirklichkeit vorbei." Die meisten lebten als Vertriebene im eigenen Land. So komme beispielsweise im kurdischen Nordirak auf jeden vierten Einwohner ein Vertriebener, sagte Spiegel. Davon ist Deutschland weit entfernt.
Und noch etwas kommt für Spiegel zu kurz: "Die Frage nach den vielschichtigen Gründen, warum Tausende von Menschen ihre Heimat verlassen, wird zu wenig gestellt." Manche wollten Krieg und Terror entkommen, nicht nur in Syrien, sondern etwa auch in Nigeria wegen der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram. Andere Menschen wiederum wollten Armut und Elend hinter sich lassen - woran auch westliche Staaten Schuld trügen: Sie würden "durch politische Entscheidungen der Industrie- und Schwellenländer" mitverursacht.
Übersicht über die Bewilligungen nach Förderbereichen in 2014
So zerstörten etwa "unfaire Handelsabkommen" die Existenzgrundlagen einheimischer Produzenten. "Internationale Konzerne plündern die Ressourcen Afrikas ohne einen nennenswerten Nutzen für die lokale Bevölkerung aus." Spiegel forderte Europa und die Weltgemeinschaft auf, die Ursachen von Armut und Flucht "umfassend anzugehen".
Für seine eigene internationale Arbeit hat das bischöfliche Hilfswerk im vergangenen Jahr mehr Geld ausgeben können: Das Plus lag nach eigenen Angaben bei 6,5 Millionen Euro. Das Entwicklungshilfswerk habe insgesamt 185,8 Millionen Euro eingenommen und Projekte in mehr als 90 Ländern unterstützt.
Jüsten kritisiert deutsche Rüstungsexporte
Dass mehr Geld zur Verfügung stand, lag Spiegel zufolge auch an der Hilfs- und Spendenbereitschaft der Menschen in Deutschland: Die vergangenen Monate hätten gezeigt, dass die Menschen hierzulande sehr solidarisch mit Opfern von Hunger, Armut, Naturkatastrophen oder Menschenrechtsverletzungen seien.
Der Leiter der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Karl Jüsten, betonte, dass der weltweite Frieden wegen der Verfügbarkeit von Waffen gefährdet sei - Deutschland gehe hier nicht mit gutem Beispiel voran. Rüstungsgüter würden mitunter so eingesetzt, wie wir das nie wollten". Nötig seien "Beschränkungen und Restriktionen".
Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks Misereor.
Spiegel sieht die Welt an einem kritischen Punkt. "Die verschiedenen Weltregionen sind zunehmend miteinander verflochten und ökologisch zerbrechlicher. Das beinhaltet für die Zukunft gleichzeitig große Gefahren und große Chancen."
Etwa beim Klimaschutz. "Mutige und konsequente Entscheidungen" erwarte er bei der UN-Konferenz zur Festlegung der neuen weltweiten Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsagenda im September in New York sowie beim UN-Klimagipfel Ende dieses Jahres in Paris. Spiegel gab zu bedenken, dass sich Entwicklungspolitik bisher besonders am Vorbild der Industrieländer orientiert habe. "Inzwischen ist bekannt, dass dieses 'Vorbild' Mängel hat wie die fehlende Umweltverträglichkeit von Konsum- und Produktionsmustern."
Spiegel: Weltgemeinschaft kann sich kein "Weiter so" erlauben
Immer mehr Menschen in südlicheren Erdteilen spürten die Folgen des Klimawandels - zum Beispiel in Bangladesch und Afrika. "Das ist eine grausame Ironie, da das jene Menschen sind, die bislang am wenigsten zum Ausstoß von Treibhausgasen beigetragen haben." Ein "Weiter so" könne sich die Weltgemeinschaft nicht erlauben. Auch Papst Franziskus habe mit seiner Umweltenzyklika klar gemacht, dass der Kampf gegen Umweltzerstörung und Armut zusammengehöre und "daher auch gemeinsam angepackt werden" müsse.
Spiegel kündigte einen geplanten "ökumenischen Klimapilgerweg für Gerechtigkeit" an: Von Mitte September bis Ende November wollen sich Menschen aus ganz Europa auf den Weg nach Paris machen.