Austen Ivereigh ist britischer Journalist und Vatikan-Kenner

Vatikan-Experte: Leo ermöglichte Einigung mit deutschen Bischöfen

Veröffentlicht am 11.06.2025 um 00:01 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 

Bonn ‐ Papst Leo führt den Kurs seines Vorgängers fort – mit leiserem Ton, aber klarer Linie, meint der Vatikan-Experte Austen Ivereigh. Im katholisch.de-Interview erklärt er, warum der neue Papst auf Kollegialität und eine langfristige Festigung der Reformen setzt – auch mit Blick auf Deutschland.

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Kein großer Paukenschlag, sondern ruhig und entschlossen – so beschreibt der britische Journalist und Vatikan-Experte Austen Ivereigh den Auftakt von Papst Leo XIV. Auch mit Blick auf Deutschland betont er im Interview mit katholisch.de, dass Leo eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen mit den Vertretern der Kirche in Deutschland zum Synodalen Weg spielte. Ebenso erzählt er, was Franziskus besonders an Kardinal Prevost schätzte, wie regelmäßig sie sich trafen und wie andere Kardinäle noch vor dem Konklave auf ihn schauten. 

Frage: Herr Ivereigh, Papst Leo ist nun seit einigen Wochen im Amt. Was ist Ihr erster Eindruck von seinem Pontifikat? 

Ivereigh: Leo hat nicht mit großem Paukenschlag begonnen, wie Franziskus, sondern ruhig und entschlossen. Das ist sein Stil, aber ich vermute, es ist auch das, was die Kardinäle nach Franziskus wollten: eine Phase der Konsolidierung und des Brückenbauens. Es ist klar, dass Leo die Ära Franziskus weiterführen wird, aber auch der Kirche Zeit geben will, aufzuholen. Um ein Bild aus Jesaja 54,2 zu verwenden, das das Dokument der kontinentalen Etappe der Synode als Leitmotiv hatte: Wenn es Franziskus' Aufgabe war, den Raum des Zeltes zu erweitern, dann ist es Leos Aufgabe, die Seile zu verlängern und die Pflöcke zu befestigen. Leos viele Gaben, Fähigkeiten und Erfahrungen – als amerikanisch-lateinamerikanischer Seelsorger, als ehemaliger weltweiter Ordensoberer, als Kirchenrechtler – sind dafür besonders geeignet, ebenso wie sein Charisma des Zuhörens und Einbeziehens. Dies wird ein großartiges Pontifikat werden, eines, das vielleicht weniger verspricht, aber auf lange Sicht mehr einlöst. 

Frage: In Ihrem jüngsten Artikel für "Commonweal" weisen Sie darauf hin, dass Franziskus zunehmend auf Robert Prevost setzte – und dass Kurienkardinal Arthur Roche ihn als den "engsten Mitarbeiter" des Papstes bezeichnete. In welcher Weise hat sich Prevost dieses Vertrauen und diese Nähe verdient? 

Ivereigh: Der Präfekt des Bischofsdikasteriums gestaltet die Zukunft der Kirche mit, indem er dem Papst bei der Auswahl der Nachfolger der Apostel hilft. In Prevost wählte Franziskus für dieses Amt jemanden, dem er vertraute und dessen Urteilsvermögen er schätzte. Franziskus ernannte ihn zum Bischof von Chiclayo in dem Wissen, dass er die pastorale und missionarische Erneuerung der Diözese vorantreiben würde – nach vielen Jahrzehnten unter spanischen Opus-Dei-Bischöfen. Dann holte er ihn nach Rom mit dem Auftrag – so erzählt es Kardinal Prevost –, Bischöfe zu ernennen, die Missionare sind, keine Manager. 

Bild: ©KNA/Lola Gomez/CNS photo

"Leo hat nicht mit großem Paukenschlag begonnen, wie Franziskus, sondern ruhig und entschlossen. Das ist sein Stil, aber ich vermute, es ist auch das, was die Kardinäle nach Franziskus wollten: eine Phase der Konsolidierung und des Brückenbauens", meint Ivereigh.

Frage: Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach Papst Franziskus dazu bewogen, Prevost ein solch tiefes Vertrauen zu schenken? 

Ivereigh: Eine der großen Fähigkeiten von Franziskus war es, Menschen mit Leitungsqualitäten und Visionen zu erkennen und zu fördern. Sie lernten sich Anfang der 2000er Jahre kennen, als Prevost seine Augustiner-Gemeinschaften in Argentinien besuchte und häufig Kardinal Jorge Mario Bergoglio traf. Es ist offensichtlich, dass sie damals eine enge Beziehung aufgebaut haben. Als Franziskus zum Papst gewählt wurde, scherzte er mit Prevost – der damals seine zweite Amtszeit als Generalprior beendete – er könne sich "jetzt erstmal ausruhen". Im darauffolgenden Jahr ernannte er ihn zum Bischof von Chiclayo, und zehn Jahre später holte er ihn nach Rom. Im Februar, kurz bevor er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, erhob Franziskus ihn schließlich innerhalb des Kardinalskollegiums zum Kardinalbischof – eine besondere Ehre, die nur wenigen zuteilwird. 

Frage: Sie betonen, dass Franziskus Prevosts Stil des Unterscheidens und Entscheidens schätzte. Wie unterscheidet sich Prevosts Herangehensweise von Franziskus? Und wie könnte sich das auf sein Pontifikat auswirken? 

Ivereigh: Prevost hat mehrfach gesagt, wie sehr er Franziskus' Fähigkeit zur Unterscheidung bewunderte. Ich habe nie mit Franziskus über Prevost gesprochen, also kann ich nicht mit Sicherheit sagen, was er dachte – aber die Fakten sprechen für sich. Franziskus und Prevost trafen sich jeden Samstag für zwei Stunden. Prevost war in der Kurie bekannt für seinen Arbeitseifer – eine Eigenschaft, die er natürlich mit Franziskus teilte – sowie für seine Fähigkeit, Sitzungen zu leiten und Spaltungen zu überwinden, ohne sich Feinde zu machen. Ich habe gehört, dass Franziskus das an ihm besonders schätzte. In den Tagen vor dem Konklave, als ich zunehmend davon überzeugt war, dass Prevost gewählt werden würde, erkundigte ich mich diskret bei Freunden in der Kurie über seinen Ruf im Vatikan – und alle sprachen sehr positiv über seine Sitzungsleitung und seine Fähigkeit, Ergebnisse zu erzielen. 

Frage: Der Leitungsstil von Franziskus hat oft geteilte Reaktionen ausgelöst – einerseits Lob für seine pastorale Ausrichtung, andererseits Kritik an Inkonsequenz oder persönlicher Willkür. Wie bewerten Sie diesen Stil rückblickend – und wie ist er mit dem Stil von Leo vergleichbar? 

Ivereigh: Wenn wir solche Vergleiche ziehen, ist es wichtig, mit dem Ziel zu beginnen, das jeder Papst verfolgt. Franziskus war ein Visionär mit einem klaren Gefühl dafür, wohin der Geist die Kirche führen wollte – eine Vision, die weitgehend vom Treffen von Aparecida 2007 geprägt war, als die lateinamerikanischen Bischöfe eine tiefe Zeichen-der-Zeit-Unterscheidung vornahmen, die im Grunde das Pontifikat von Franziskus formte. Diese Vision umzusetzen, erforderte einen Bruch mit dem Gewohnten. Es bedeutete, Klerikalismus, Moralismus, Eurozentrismus, Rigidität und all die anderen Hindernisse für eine missionarische und pastorale Umkehr zu überwinden – und zugleich ein dramatisches Zeichen der Nähe und Barmherzigkeit Gottes zu setzen. Das war Franziskus' Priorität. Leos Priorität wird es sein, darauf aufzubauen. Er wird nichts von der Franziskus-Reform aufgeben. Aber er wird kollegialer und gemeinschaftlicher regieren. Franziskus' Leitungsstil – dem Anliegen entsprechend – war stärker personalistisch. In gewisser Weise wird es also Leos Aufgabe sein, jene Reform, die Franziskus von der gesamten Kirche forderte, nun auch in seinem Pontifikat anzuwenden. 

„In den Tagen vor dem Konklave, als ich zunehmend davon überzeugt war, dass Prevost gewählt werden würde, erkundigte ich mich diskret bei Freunden in der Kurie über seinen Ruf im Vatikan – und alle sprachen sehr positiv über seine Sitzungsleitung und seine Fähigkeit, Ergebnisse zu erzielen.“

—  Zitat: Austen Ivereigh

Frage: Wie unterscheidet sich Papst Leos Verständnis von Synodalität von dem seines Vorgängers Franziskus? Erwarten Sie Kontinuität, Vertiefung oder eine Verschiebung der Akzente? 

Ivereigh: Ich erwarte Kontinuität und Vertiefung. Alles, was wir über Leo und die Synodalität wissen – was er seit seiner Wahl gesagt hat, was er als Bischof getan hat, seine Worte auf den Synodenversammlungen im Oktober 2023 und 2024 – weist darauf hin. Aber vielleicht möchte er Dinge anders angehen. Er weiß, dass viele in der Kirche durch die Synodalität verunsichert oder irritiert sind und dass das Abschlussdokument angenommen werden muss. Wird er vielleicht zunächst die Zustimmung der Bischofskonferenzen einholen wollen? Wir werden sehen. 

Frage: Leos jüngste Ernennung einer Frau zur Sekretärin des Dikasteriums für das Ordensleben wurde als Fortsetzung des von Franziskus angestoßenen Strebens nach mehr Frauen in Leitungsfunktionen in der Kurie gesehen. Wie interpretieren Sie diesen Schritt? 

Ivereigh: Genau so: als Fortsetzung dieser Entwicklung. Bischof Prevost hatte in Chiclayo viele Frauen – sowohl Laiinen als auch Ordensfrauen – in leitende Positionen berufen. Er glaubt fest an eine Kirche, in der alle Getauften berufen sind. 

Frage: Sie beschreiben Leo als jemanden, der "verschiedene Seiten miteinander versöhnen" kann. Sehen Sie ihn als echten Brückenbauer in der polarisierten Kirche von heute? Und falls ja – welche Strategien könnte er verfolgen, um Einheit zu fördern? 

Ivereigh: Seine große Stärke, so höre ich, liegt im Zuhören und Einbeziehen, darin, allen Sichtbarkeit und Anerkennung zu schenken. Das ist das Entscheidende: dass wir einander genug respektieren, um einander zuzuhören – und selbst wenn wir nicht übereinstimmen, uns demütig bemühen zu verstehen, warum andere glauben, was sie glauben. Wie Franziskus ist Leo ein Mann praktischer Taten, kein Theoretiker. Ich kann mir vorstellen, dass er Prozesse in Gang setzen wird, die gegenseitiges Verständnis fördern. 

Synodaler Ausschuss in Mainz
Bild: ©KNA/Angelika Zinzow

Ivereigh zum Synodalen Weg: "Leo spielte eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen mit der Kirche in Deutschland zum Synodalen Weg und bei der Ermöglichung der darauffolgenden Vereinbarung."

Frage: Einige Katholiken, besonders in traditionalistischen Kreisen, hoffen, dass Papst Leo die Einschränkungen für die vorkonziliare Liturgie, die durch Traditionis Custodes eingeführt wurden, aufheben könnte. Wie realistisch ist diese Hoffnung aus Ihrer Sicht? 

Ivereigh: Diese Einschränkungen wurden auf Bitten von Bischöfen eingeführt, die besorgt waren, dass Benedikts XVI. Liberalisierung des alten Ritus zu Spaltung und Uneinigkeit führte. Franziskus handelte im Sinne der Einheit. Leo, dem sowohl Kollegialität als auch Einheit am Herzen liegen, wird Traditionis Custodes nicht rückgängig machen wollen. Aber er könnte Ideen haben, wie man traditionalistische Gruppen zu einem tieferen sensus ecclesiae hinführen kann. 

Frage: Auf der anderen Seite steht der deutsche Synodale Weg. Als Kardinal nahm Leo an Dialogen zwischen deutschen Bischöfen und dem Vatikan teil. Welche Einblicke können Sie geben, wie er diesen Prozess nun als Papst angehen könnte? 

Ivereigh: Leo spielte eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen mit der Kirche in Deutschland zum Synodalen Weg und bei der Ermöglichung der darauffolgenden Vereinbarung. Ich denke, er wird in Fragen der Lehre, der Ekklesiologie und des Kirchenrechts ebenso standhaft sein wie gegenüber den Traditionalisten. Er wird die Ungeduld vieler Deutscher mit dem Reformtempo respektieren, sie aber einladen, gemeinsam mit dem Rest der Kirche unterwegs zu sein. Die Kirche ist heute eine multipolare, komplexe, globale Realität. Ihre Unterschiede lassen sich nicht durch autoritäre Lösungen eines Teils der Kirche für den Rest lösen. Leo wird wollen, dass wir den Weg weitergehen, zu dem Franziskus uns aufgerufen hat: unsere Horizonte zu erweitern und das Zelt unter der Leitung des Geistes zu vergrößern. Und auf diesem Weg ist es die Aufgabe des Petrus – heute also Leos –, uns zusammenzuhalten und weiterzuführen. Ich bin sicher, dass Leo das tun wird.

Von Mario Trifunovic