Theologin und Kunsthistorikerin: Als Kind vom Priester missbraucht
Ilonka Czerny arbeitet seit über 20 Jahren in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Theologin und Fachbereichsleiterin für Kunst an der Akademie der Diözese hat die Ausstellung "Betroffene zeigen Gesicht" zum Thema Missbrauch organisiert, die seit 2022 durch Deutschland tourt. Dort werden Fotos von Kindern gezeigt, die sexuell missbraucht wurden. Ein Foto davon zeigt sie selbst als junge Messdienerin. Im Interview mit katholisch.de spricht sie darüber, wie sie in Kontakt mit dem Priester kam, der sie sexuell missbrauchte, und wie es ihr gelang, heute darüber offen zu sprechen.
Frage: Frau Czerny, wie schafften Sie es, das zu verarbeiten, was Ihnen als Kind von einem Priester angetan wurde?
Czerny: Die sexualisierte Gewalt und der geistliche Missbrauch, die mir als Kind über Jahre angetan wurden, kann ich nicht in Worte fassen. Als Kunsthistorikerin und Fotokünstlerin versuche ich daher, eher Bilder dafür zu finden. Ich habe letztes Jahr das Fotobuch "Light Up the Unspeakable" gestaltet, es bedeutet "Das Dunkle erhellen". Dazu bin ich an den Ort gefahren, wo der schreckliche Missbrauch stattgefunden hat. Ich habe die Räume im Pfarrhaus, im Gemeindehaus, in der Sakristei und im Kirchenkeller aufgenommen. Die Fotos sind bewusst unscharf und fast ausschließlich aus der Perspektive eines Kindes aufgenommen. Also eines Kindes, das auf dem Boden liegt, weil der Missbrauch ausschließlich auf dem Fußboden stattfand. Es hat mich viel Kraft gekostet, diese Aufnahmen zu machen. Die Rückmeldungen zu dem Buch zeigen mir, die Intention – die Atmosphäre meines Leidens zu vermitteln – ist annähernd geglückt. Viele sagen, dass es sie fröstelt und ängstigt, wenn sie meine Bilder anschauen.
Frage: Wie kamen Sie als Kind in Kontakt mit diesem Priester, der Sie sexuell missbrauchte?
Czerny: Der Priester, über 40 Jahre alt, kam in unsere Kirchengemeinde, als ich zum Erstkommunion-Unterricht gehen sollte. Dadurch hat er mich kennengelernt. Nach der Kommunion bin ich Messdienerin geworden und war noch in anderen kirchlichen Kindergruppen dabei. Ich war noch nicht einmal 12 Jahre alt, da wollte er, dass ich den Küsterdienst übernehme. Ich empfand das als große Ehre, zudem habe ich dadurch etwas Geld verdient. Außerdem hat der Pfarrer mit mir Hausaufgaben gemacht und für Klassenarbeiten gelernt. In dieser Zeit begannen die sexualisierten Übergriffe. Meine Eltern ahnten nichts, meine Mutter wähnte mich an einem guten und sicheren Ort. Ein Pfarrer war damals für viele wie ein "Halbgott in Schwarz". Mir gegenüber hat er sich wie der "nette Onkel" verhalten, mir Geschenke gemacht. Ich habe ihm vertraut und er hat mein Vertrauen schamlos ausgenutzt. Ich musste sogar bei ihm beichten. Dabei hat er mich als Kind nach Sexualpraktiken ausgefragt und gesagt, Selbstbefriedigung sei eine Sünde. Von mir verlangte er jedoch, ihn zu befriedigen. Ich bin mir mittlerweile sicher, er benutzte mich, damit er sich nicht selbstbefriedigen musste und er in seinen Augen schuldlos blieb. Das ist pervers und eine Verunglimpfung des Beichtsakramentes.
Frage: Wie haben Sie den Missbrauch aufgearbeitet und was hat Ihnen dabei geholfen?
Czerny: Aufgrund einer starken depressiven Phase meines Lebens ging ich ab 2012 regelmäßig zu einer Psychotherapeutin. Erst drei Jahre später konnte sie herausarbeiten, dass die Ursache meines Leidens die sexualisierte Gewalt des damaligen Gemeindepfarrers gewesen ist. Das, was er mit mir getan hat, ist ziemlich eklig für mich gewesen. Das weiß ich bis heute. Er hat mir als Kind aber immer wieder eingeimpft, dass da nichts wäre. Für ihn wäre da angeblich nichts. Er hat sich den sexuellen Missbrauch schöngeredet. Bei ihm Sexualpraktiken beichten zu müssen, war zusätzlich noch geistlicher Missbrauch. Mein Körper und meine Seele hatten diese schrecklichen Erlebnisse abgespalten und verdrängt. Als es mir nach und nach klar wurde, dass ich Missbrauchsopfer war, bin ich für einige Wochen in einer psychosomatischen Klinik gewesen. Von dort aus habe ich dann den damals Mitte 80-jährigen Täter angezeigt. Das hat mich viel Kraft gekostet - auch die damit verbundenen kirchlichen Befragungen durch juristische Ansprechpersonen. Anschließend begann das kirchenrechtliche Verfahren. Nach der Veröffentlichung der Mainzer Missbrauchsstudie im März 2023, bei der ich mitgewirkt hatte, sprach ich erstmals in meiner ehemaligen Heimatgemeinde über meinen Missbrauchsfall, im Dezember 2024 vor einem größeren Auditorium in einer öffentlichen Pfarrversammlung. Viele verständnisvolle, fürsorgliche Menschen haben damals geholfen und sind immer noch für mich da, wenn ich sie benötige. Auch der jetzige Gemeindepfarrer und die Gemeindereferentin, meine Familie und meine Schwestern begleiten mich dabei. Die Aufarbeitung ist für mich ein Prozess, eine Entwicklung und dauert immer noch an. Mittlerweile bin ich sprachfähig geworden und kann offen darüber reden. Ich will kein Mitleid, nur Verständnis.
Frage: Wie hat der Täter darauf reagiert?
Czerny: Er hat den Missbrauch zugegeben. Nach meiner Anzeige hat ihn der damals zuständige Personalverantwortliche für Priester befragt. Dass er den Missbrauch zugegeben hatte, war wichtig für mich, weil das meine Aussage entlastet hat und mir geglaubt wurde. Auch für andere Menschen aus der Kirchengemeinde war das wichtig. Es braucht jedoch Zeit, darüber sprachfähig zu werden.
Die Kunsthistorikerin und Theologin Ilonka Czerny mit ihrem Therapiehund Arte.
Frage: Kam es zu einer Verurteilung oder Bestrafung des Täters?
Czerny: Mein Täter hatte Glück gehabt. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden wegen Verjährung eingestellt. Eigentlich wäre er aufgrund der Schwere der Tat zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Der anfänglichen Auflage, die Messe nicht mehr allein zelebrieren zu dürfen, ist er nicht nachgekommen, weil er vom damaligen Ortspfarrer nicht daran gehindert wurde. Die jetzige Bevollmächtigte des Generalvikars, Stephanie Rieth, die für das Thema sexualisierte Gewalt im Bistum Mainz zuständig ist, machte bei der Pfarrversammlung im Dezember 2024 deutlich, dass die damalige Bistumsleitung in meinem Fall hätte konsequenter handeln können, damit die Glaubenskongregation in Rom die Verjährung aufhebt. Denn immerhin hatte der Pfarrer die Taten zugegeben. So bekam er lediglich die Auflage, sich aus der Pfarrgemeinde zu entfernen, in ein Altenheim zu ziehen und nicht mehr zelebrieren zu dürfen. Ich bin der Meinung, lebende Täter müssen auf jeden Fall auch finanziell zur Verantwortung gezogen werden und in einen Missbrauchsfond einbezahlen. Vielleicht müsste ihnen sogar das Erbe entzogen werden, damit es automatisch in den Missbrauchsfond übergehen kann. Täter müssten zu Geldstrafen herangezogen werden können. Das hilft den Betroffenen und entlastet zudem die Amtskirche.
Frage: Hat sich der Priester bei Ihnen entschuldigt?
Czerny: Nach Abschluss des Verfahrens bin ich, trotz Bedenken meiner Therapeutin, zu ihm gefahren und hoffte auf eine Entschuldigung – ich hoffte vergebens. Aber ich wollte diesen Mann noch einmal treffen. Ich habe bei ihm keine Reue wahrgenommen. Er hat im Gespräch immer wieder von dem Thema abgelenkt und mich geduzt, obwohl ich ihn früher immer siezen musste. Diese Konfrontation brauchte ich für mich. Ich wollte ihn vor seinem Tod mit dem Missbrauch konfrontieren. Inzwischen ist er verstorben. Ich selbst habe eine Anerkennungsleistung von 4.000 Euro vom Bistum erhalten. Mein Fall ist abgeschlossen, denn der Täter bekam aus Rom eine Strafe. Ich bin ein anerkanntes Opfer, das ist mir wichtig.
Frage: Sie sind Theologin und bei der Diözese Rottenburg-Stuttgart beschäftigt. Wie haben Sie es geschafft, trotz des Missbrauchs in der und für die Kirche zu arbeiten?
Czerny: Ich differenziere sehr stark. Die Menschen von heute sind nicht mein Täter von gestern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Akademie der Diözese Rottenburg machen eine sehr gute Arbeit, die ich voll unterstützen kann. Auch bei vielen anderen kirchlichen Mitarbeitenden sehe ich die Intention, etwas bewegen zu wollen. Das entspricht ganz und gar meinem Anliegen. Problematisch erscheinen mir allerdings die schwerfälligen kirchlichen Strukturen, die einst zum systemischen Versagen beigetragen haben - hier sehe ich noch Handlungsbedarf und sehr viel Luft nach oben. Aber auch dabei möchte ich nicht pauschal urteilen, sondern differenzieren. Es kommt immer darauf an, wie mit den Strukturen umgegangen wird, wie sie mit Leben gefüllt werden. Ich könnte nicht in jeder Diözese arbeiten. Ich möchte nicht pauschal gegen Priester urteilen. Ich bin nach wie vor mit einigen befreundet. Sie können nichts dafür, was mir damals als Kind von einem Priester angetan wurde. Die Kunst hilft mir, kreativ zu sein. Wenn es mir schlecht geht, dann versuche ich mich mit der Kunst zu retten. Vielleicht kann ich deshalb in der Kirche arbeiten. Ich möchte mit meiner Arbeit, mit meinen Aussagen als Betroffene, daran mitwirken, dass sich etwas verändert. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass wir die Kirche im Rahmen der Möglichkeiten reformieren.
Frage: Sie haben eine Ausstellung zum Thema Missbrauch organisiert – wie waren Ihre Erfahrungen damit?
Czerny: Das Konzept zur Ausstellung "Betroffene zeigen Gesicht" sah vor, Kinderbilder aus der Zeit des Missbrauchs einzureichen. Ich bat die Teilnehmenden darum, Kurztexte darüber zu schreiben, was der Missbrauch mit ihnen und ihrem Leben gemacht hat. Die Rückmeldungen waren spärlich, weil die Betroffenen Bedenken hatten, bei einer katholischen Institution auszustellen. Erst als ich den Interessierten offenbarte, dass auch ich Betroffene bin, wurden mir Werke und Texte übermittelt. Mein eigenes Bild als Messdienerin ist in dieser Ausstellung zu sehen. Seit 2022 tourt diese Präsentation durch ganz Deutschland. Die Reaktionen darauf sind sehr emotional.
Frage: Heute engagieren Sie sich für andere Betroffene von Missbrauch in der Diözese und bei der Deutschen Bischofskonferenz. Und zwar nicht unter einem Pseudonym, sondern unter Ihrem Namen - warum?
Czerny: Zu Beginn meiner Tätigkeit im Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz 2020 und auch noch zu Beginn meiner Berufung in den Betroffenenbeirat der Diözese Rottenburg-Stuttgart 2022 bin ich unter einem Pseudonym aufgetreten. Mittlerweile habe ich das Gefühl, ich könnte besser, entschiedener für andere Betroffene und mich eintreten, wenn ich in Verbindung mit meinem vollständigen Namen "Gesicht" zeige, auch wenn ich mich dadurch angreifbarer mache. Mein Umgang mit meiner erlittenen sexualisierten Gewalt und dem geistlichen Missbrauch – die damit verbundenen erheblichen Einschnitte in meinem Leben sowie die gesundheitlichen Folgen und die Arbeit in den Betroffenengremien, ist zunehmend mehr ein Teil meines Lebens geworden. Mein Täter hat nicht nur mein Beziehungs- und Privatleben zerstört, er hat auch die Kirche massiv geschädigt. Auch das systemische Versagen der Amtskirche, das diese Täter gedeckt hat, trägt Mitverantwortung. Wir Betroffene möchten, dass die Wahrheit ans Licht kommt, denn nur dann kann Kirche wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen. Wir versuchen gemeinsam klare und gerechte Entschädigungsregeln zu schaffen. Wir setzen uns für eine nachhaltige Präventionsarbeit ein. Die Betroffenenbeiräte der Diözesen beraten die Bischöfe und die kirchlichen Angestellten im Umgang mit Betroffenen. Wir möchten Mittelspersonen sein für die, die noch nicht sprachfähig sind. Was meinen Fall betrifft: In der Kirchengemeinde wird noch immer für den früheren Pfarrer und Missbrauchstäter die Messe gelesen. Nur sein Name wird nicht mehr genannt. Damit kann ich leben. Weiterhin glaube ich an Gott. Meinen Glauben konnte er damals nicht zerstören. Gott kann nichts dafür, dass sein Bodenpersonal oft falsch handelt. Sie sollten es aber nicht im Namen Gottes tun, das ist verwerflich.
