So will das Bistum Trier Missbrauchsbetroffene spirituell begleiten
Wenn Menschen im Rahmen der Kirche Missbrauch erleiden, hat das oft mit Spiritualität zu tun: Mit Bildern von Kirche und vom Glauben. Darauf reagiert nun ein neues Programm im Bistum Trier: Geistliche Begleitung gezielt für Betroffene. Aber kann das funktionieren: Glauben mit Glauben begegnen? Im Interview spricht Andreas Zimmer, der Präventionsbeauftragte für das Bistum Trier, über Möglichkeiten und Bedürfnisse.
Frage: Herr Zimmer, was bedeutet traumasensible Seelsorge?
Zimmer: Ausgangspunkt war, dass der Betroffenenbeirat und die Aufarbeitungskommission des Bistums den Bedarf von Betroffenen an uns weitergegeben haben, wonach ein Seelsorgeangebot gewünscht wird. Es geht darum, das toxische Gedankengut aufzuarbeiten, das Täter gezielt zur Manipulation eingesetzt haben. Das war eine verbreitete Strategie: ein Christentum zu vermitteln, in dem der Täter die Regeln und die Interpretation vorgibt und so die Kontrolle hat. Deshalb ist die Idee: Wir installieren jetzt ein offiziell vom Bistum Trier beauftragtes Gegenüber, einen Seelsorger oder eine Seelsorgerin als Gesprächspartner oder -Partnerin. Mit ihm oder ihr können Betroffene im Sinne spiritueller Autonomie herausarbeiten, welches Bild von Spiritualität ihnen weiterhilft und welche Möglichkeiten sie haben, Spiritualität anders zu denken.
Frage: Sie sprechen von geistlicher Begleitung?
Zimmer: Genau. Wobei diese geistlichen Begleiterinnen und -Begleiter eine Weiterbildung gemacht haben, durch die sie Mechanismen kennengelernt haben, die bei traumatisierten Menschen nachwirken, um diese traumasensibel begleiten zu können. Denn Menschen, bei denen Religiosität und Spiritualität dazu benutzt wurden, um sie zu manipulieren, sind in einer besonderen Situation: Was eigentlich dazu dienen sollte, Trost zu spenden, wurde zu einer Waffe gegen sie.
Frage: Wer sind diese geistlichen Begleiter konkret?
Zimmer: Wir haben im Bistum eine Fachgruppe geistliche Begleitung, an die wir uns gewendet haben. Aus dieser haben sich Priester, Pastoralreferentinnen, Ordensleute, Gemeindereferenten und Ansprechpersonen, die weder mit dem Bistum noch mit einem Orden in einem Dienstverhältnis stehen, bereit erklärt, sich entsprechend zu qualifizieren. Die Betroffenen können dann auswählen, wer am besten zu ihnen passt.
Andreas Zimmer ist Präventionsbeauftragter im Bistum Trier.
Frage: Es geht hier um Menschen, die in der Kirche mit den Mitteln der Kirche missbraucht wurden. Die kommen damit jetzt wieder in Berührung. Wie kann das funktionieren?
Zimmer: Wichtig ist mir zu betonen, dass es dieses Angebot gibt, weil sich Betroffene das gewünscht haben. Zudem ist relevant, dass solche manipulierende Sprachbilder in der Regel durch eine Amtsperson vermittelt wurden. Täter oder Täterin haben dabei so starke Begriffe wie "die Kirche", "der Glaube" oder "der liebe Gott" aufgefahren, um ihre Opfer mit Worten zu manipulieren. "Die Kirche lehrt, dass…" war zum Beispiel ein Satz, der in diesem Zusammenhang fiel – als gäbe es nur eine Art, katholisch zu sein. Diese Sätze blieben in Erinnerung, als Teil des Traumas, als Teil der nachwirkenden seelischen Verletzung. Daher kann es zur individuellen Aufarbeitung und zur Suche nach Heilung gehören, diese Wunde anzuschauen. Ob man dann am Ende die Religiosität wieder als Quelle für sich entdeckt oder mit Religion an sich abschließen möchte und ein Leben ohne Religion führt – das wird jede und jeder Betroffene am Ende selbst entscheiden. Was aber auffällt: In anderen Bereichen von Gewalterfahrungen kann persönliche Religiosität eine Hilfe sein, sie kann Stabilität bieten. Diese Quelle wird verschüttet, wenn der Täter ein Kirchenfunktionär ist.
Frage: Wie kann denn die Rekonstruktion dieser inneren Bilder aussehen?
Zimmer: Da gibt es kein Patentrezept – außer den grundlegenden Ansatz: Spiritualität ist etwas sehr Persönliches. Man muss danach suchen, was einem Sinn gibt. Das ist ein Prozess des Begleitens und Entdeckens. Wir haben unsere geistlichen Begleiterinnen und Begleiter gut darauf vorbereitet, aber das wird für uns weiterhin ein lernendes System sein. Wir werden in stetem Austausch mit unserem Betroffenenbeirat evaluieren, wie sich das Projekt entwickelt, was für Anfragen kommen und was wir daraus lernen. Im besten Fall definieren wir dann eine "Good Practice", also etwas, was gut funktionieren kann.
Frage: Kritische Geister könnten bei Ihrem Angebot durchaus auf den Gedanken kommen, dass das Bistum sich damit selbst reinwaschen und Leute in die Kirche "zurückholen" möchte. Ist da etwas dran?
Zimmer: Ziel ist nicht, dass jemand, der von spirituellem Missbrauch betroffen ist, seine Kirchenmitgliedschaft behält oder zurückgewinnt. Noch hat die Frage, ob jemand für sich einen spirituellen Weg wiederentdeckt, etwas damit zu tun, ob man im Rahmen der eigenen Aufarbeitung Wege des Rechtsstaates einschlägt. Das ist eine andere Ebene. Der eigentliche Grund, der unser Angebot legitimiert, ist der Bedarf bei den Betroffenen. Nicht das Bistum sagt, was Betroffenen guttut – das wäre genau der falsche Weg, sondern Betroffene selbst haben diesen Bedarf formuliert. Und dieses Angebot ist schon eine folgerichtige Reaktion auf ein Versagen der Kirchenleitung, weil die Personalverantwortlichen eigentlich den Auftrag hatten, dafür zu sorgen, dass Manipulation in der Seelsorge nicht passiert. Damit sind Bischöfe in früheren Zeiten offensichtlich in diesen Fällen gescheitert. Deshalb ist es nur folgerichtig, ein offizielles Angebot zu schaffen, das bei der Bewältigung der Schädigungen helfen soll.
„Sehr auf Regeln fokussierte Spiritualitätsformen sind nur bei einer verhältnismäßig kleinen Gruppe wirksam.“
Frage: Ist es nicht dennoch schwierig, dass Schaden und Heilung ja aus der gleichen Quelle kommen sollen – der Spiritualität?
Zimmer: Es macht einen Unterschied, ob jemand darin begleitet wird, den eigenen Weg zu finden und die inneren Quellen zu entdecken – oder ob jemand mit der Haltung an die Sache herangeht: "Ich sage dir jetzt, wie es läuft und wo der liebe Herr Jesus ist. Du erfährst das nur durch mich und keinen anderen. Entweder du hältst dich an mich oder du bist verdammt." Um dagegen zu wirken kann es wichtig sein, dass amtlich bestätigte Seelsorgende heute sagen: "Was der Täter dir da früher erzählt hat, das war falsch." Nicht jeder wird das nachfragen, aber wen es unterstützt, der findet hier ein Angebot. Nichtsdestotrotz ist Kritik an diesem Ansatz erwünscht. Nur so können wir konzeptionelle blinde Flecken entdecken und Unklarheiten beseitigen.
Frage: Aber konterkariert sich die Kirche da nicht selbst? Denn dieses regelbasierte Verständnis von Glauben gibt es ja durchaus. Und der Papst und das Lehramt in Rom sagen den Leuten ja, wie sie es machen sollen.
Zimmer: Sehr auf Regeln fokussierte Spiritualitätsformen sind nur bei einer verhältnismäßig kleinen Gruppe wirksam. Außerdem kann diese eingeengte Sichtweise durchaus für eine Zeit eine gute Sache sein – schwierig wird es, wenn man dem sein ganzes Leben anhängt. Denn dann versperrt man sich selbst den Blick.
Bei unserem Angebot sehen wir uns eindeutig auf einer Linie mit der Diskussion zum "Missbrauch geistlicher Autorität", den die Deutschen Bischöfe auf den Weg gebracht haben. Im Übrigen: Dienst des Papstes als höchste Autorität der Kirche ist es nach meinem Verständnis nicht, den Gläubigen ihr ganz persönliches Glaubensleben zu diktieren; seine unfehlbare geistliche Vollmacht ist auf bestimmte Bereiche beschränkt und klar definiert. Da geht es zum Beispiel um Kirchendisziplin und die theologischen "Leitplanken". Nicht alles, was der Papst sagt, ist per se als ewige Weisheit in Stein gemeißelt. Das hat etwa Papst Franziskus sehr deutlich vorgelebt. Da mag es für manche Gläubige Reibungspunkte geben, für mich ergeben sich die aber nicht zwangsläufig.
Frage: Die traumasensible Seelsorge ist bislang nur ein kleines Projekt – es klingt bei Ihnen aber so, als sei diese Perspektive auch im Pfarreialltag wichtig.
Zimmer: Unbedingt. Vermehrt ist eine besondere Sensibilität gefordert. Wir sind heute sensibler für Traumata als früher, wir wissen mehr darüber. Ich denke, traumasensibles Handeln ist zu einer Grundkompetenz geworden, die sich seelsorglich Tätige aneignen sollten. Wenn ich an die Flutkatastrophe im Bistum vor einigen Jahren denke oder an Amokfahrten oder Brandkatastrophen, wird das sofort einsichtig. Aber es gilt auch angesichts der persönlichen traumatischen Erfahrungen, die Menschen erleben.
