Medizinethiker Maio warnt vor Ökonomisierung der Medizin

Unter Druck

Veröffentlicht am 28.05.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Medizin

Freiburg ‐ Krankenhäuser in Deutschland sind zu einem seelenlosen Reparaturbetrieb geworden, behauptet die WDR-Moderatorin Sonia Mikich in einem neuen Buch. Auch der Deutsche Ärztetag, der heute in Hannover beginnt, befasst sich mit der Frage, wie viel Markt die Medizin verträgt. Einer der Referenten ist der Freiburger Medizin-Ethiker Giovanni Maio. Im Interview fordert er ein Umdenken in deutschen Krankenhäusern.

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Frage: Herr Maio, wird in deutschen Krankenhäusern nur noch auf Gewinn geschielt?

Maio: Das wäre eine sehr einseitige Sicht. Richtig ist aber, dass es einen sehr gefährlichen Trend zur Ökonomisierung der Medizin gibt. Die Wirtschaftlichkeit eines Hauses wird immer mehr zum neuen Qualitätsmerkmal. Dadurch entsteht ein Trend, das ökonomische Kalkül so zu verinnerlichen, dass manche Ärzte dann am Ende von der Ökonomie gekapert werden.

Frage: Woher kommt dieser Trend?

Maio: Vor zehn Jahren wurde das Abrechnungssystem der Krankenhäuser radikal umgestellt. Die Krankenkassen zahlen nicht mehr nach der Aufenthaltsdauer des Kranken, sondern eine einheitliche Fallpauschale je nach Krankheit des Patienten - also für einen Leistenbruch 2.200 Euro, für ein künstliches Kniegelenk 9.000 Euro - unabhängig davon, wie lange der Patient behandelt wurde. Das hat die Kliniken unter massiven wirtschaftlichen Druck gesetzt und in einen Konkurrenzkampf getrieben. Sie müssen möglichst viele Patienten gewinnen und möglichst viele Behandlungen mit hoher Vergütung durchführen. Andererseits müssen sie Kosten verringern, die über Fallpauschalen schlecht oder gar nicht vergütet werden. Das bedeutet: Personal einsparen. Dieser Personalabbau und die Zunahme von Dokumentationstätigkeiten führen zu einer enormen Arbeitsverdichtung, wodurch die Ärzte und Pflegenden dazu verleitet werden, die Kontaktzeiten zu den Patienten zu verringern, was dann eine sprechende Medizin erschwert.

Frage: Aber ist wirtschaftliches Denken nicht auch im Krankenhaus wichtig?

Maio: Man kann dieses Fallpauschalen-System nicht einfach verdammen. Die frühere Abrechnung nach Aufenthaltsdauer hat Verschwendung belohnt und zu langen Aufenthaltszeiten in den Krankenhäusern geführt. Jetzt ist das Pendel zu stark in die andere Richtung ausgeschlagen. Die Behandlung der Patienten wird nach dem Muster der industriellen Produktion organisiert und standardisiert. Die Pflege leidet sehr darunter, und viele Ärzte haben ein schlechtes Gewissen.

Giovanni Maio leitet den Lehrstuhl für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Bild: ©picture alliance / dpa/Horst Galuschka

Giovanni Maio leitet den Lehrstuhl für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Frage: Warum?

Maio: Weil sie oft das Gefühl haben, unter den ökonomischen Zwängen ihren Patienten nicht gerecht werden zu können. Die Medizin beugt sich der ökonomischen Logik und wird dadurch verformt. Der Patient aber sucht eine Sorgebeziehung und keine Geschäftsbeziehung zu seinem Arzt. Wenn Mediziner Operationen nicht zum Wohl des Kranken durchführen, sondern weil sie gegenüber dem Krankenhausmanager steigende Behandlungszahlen vorweisen müssen, unterminiert das das Vertrauen in den sozialen Charakter der Medizin. Ein Arzt ist jemand, der eine Loyalitätsverpflichtung zu seinem Patienten eingeht und sich gerade nicht opportunistisch zeigt, sondern der am Wohl des Patienten als oberster Maxime unbeirrbar festhält.

Frage: Was würden Sie vorschlagen - sollte man die Fallpauschalen wieder abschaffen?

Maio: Nein, sie sind ein durchaus sinnvolles Steuerungsinstrument. Sie werden allerdings zu starr angewandt und sollten um Elemente ergänzt werden, die etwa die sprechende Medizin, Fürsorge und gute Pflege honorieren. Ärzte und Pflegekräfte müssen das Gefühl bekommen, dass sie wertgeschätzt werden, wenn sie sich für eine zwischenmenschliche Beziehung zu ihren Patienten einsetzen.

Frage: Gesundheitsexperten behaupten, dass über das neue Abrechnungssystem und die verstärkte Konkurrenz zwischen den Krankenhäusern auch eine Verringerung der Zahl der Kliniken erzielt werden sollte...

Maio: Ja, das ist ein offen erklärtes Ziel. Denn die Politik traut sich nicht, Entscheidungen über die angemessene Krankenhauslandschaft in Deutschland durchzusetzen. Statt sich den Unwillen der Wähler zuzuziehen, lassen die Politiker den Markt entscheiden, welche Kliniken überleben. Das geschieht auf dem Rücken der Patienten. Dabei wird zudem übersehen, dass die wettbewerbsfähigsten Kliniken nicht unbedingt auch die besten Kliniken sind.

„Die Ärzte müssen ihre Stimme gegen eine Überformung ihres Berufs erheben und für eine Medizin eintreten, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt.“

—  Zitat: Giovanni Maio

Frage: In die Kritik geraten sind auch Zielvereinbarungen und besondere Boni-Zahlungen für Chefärzte. Sollten sie abgeschafft werden?

Maio: Gefährlich sind sie, wenn sie therapeutische Entscheidungen beeinflussen. Wenn also der Chefarzt eine höhere Gehaltszahlung erhält, wenn er die Zahl der Rückenoperationen jedes Jahr um fünf Prozent steigert. Sinnvoll können solche Boni oder Zielvereinbarungen aber sein, wenn sie zum Beispiel die Zufriedenheit der Patienten und Mitarbeiter oder die Zahl der Fortbildungen belohnen. Solche Anreize fördern die Qualität.

Frage: Sehen Sie Chancen, dass sich der Trend zur Ökonomisierung wenden lässt?

Maio: In jedem Fall. Denn die Ärzte begreifen sich zu Recht als Opfer dieser Entwicklung und sind nicht glücklich damit. Sie müssen ihre Stimme gegen eine Überformung ihres Berufs erheben und für eine Medizin eintreten, die den Menschen und nicht die Bilanz in den Mittelpunkt stellt.

Frage: Fast ein Drittel der Kliniken sind in kirchlicher Hand. Haben sie sich dem Trend der Ökonomisierung entzogen?

Maio: Das ist sehr schwer, denn für die kirchlichen Häuser gelten die gleichen Rahmenbedingungen. Allerdings suchen viele kirchlichen Kliniken nach Wegen, ein eigenes christliches Profil zu stärken, etwa über die Motivation und die Fortbildung der Mitarbeiter. Wenn soziale Kompetenzen Wertschätzung erfahren, erhöht das die Motivation von Ärzten und Pflegekräften sowie die Identifikation mit dem jeweiligen Arbeitgeber.

Das Interview führte Christoph Arens (KNA)