Schwester Anne Kurz über das Sonntagsevangelium

Was Jesus mit der Samtenen Revolution zu tun hat

Veröffentlicht am 16.11.2019 um 17:45 Uhr – Lesedauer: 
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Venne bei Münster ‐ In dramatischen Bildern spricht Jesus von Gewaltherrschaft und Unterdrückung – und der Kraft, standhaft zu bleiben. Dieser Mut kann auch heute noch scheinbar Unüberwindbares überwinden, schreibt Schwester Anne Kurz. Das zeige auch die Tapferkeit der Tschechen und Slowaken vor genau 30 Jahren.

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Impuls von Schwester Anne Kurz

An diesem Sonntag gedenken die Tschechen und Slowaken der Samtenen Revolution, die vor dreißig Jahren ohne Gewalt die kommunistische Regierung gestürzt hat. Menschen haben sich von Hoffnung und Liebe bewegen lassen, damit die Geschichte sich wenden konnte. Tiefe Dankbarkeit durchströmt mich. Vor meinem inneren Auge sehe ich Václav Havel und seine Frau Olga. Sie sind eine Art Ikone für diesen Neubeginn.

In den letzten Wochen habe ich die "Briefe an Olga" gelesen. Briefe, die Havel in den Jahren der Gefängnishaft an seine Frau schreibt. Meistens lese abends darin. Beim Einschlafen stelle ich mir seine Pritsche vor. Aber nicht das bewegt mich am meisten, sondern dass in ihm – trotz aller depressiver Stimmungen, die er auch durchläuft – Freiheit, Hoffnung, Sinn, sogar Freude entstehen. "Die Hoffnung ist nicht außerhalb von uns, sondern in uns." schreibt er. Was sind das für eine Hoffnung und innere Kraft, die im Gefängnis in ihm wirken?

Das Evangelium des heutigen Sonntages berührt diese Frage. Zu Beginn steht das Bild des Tempels, von dem kein Stein auf dem anderen bleibt. Alles wird niedergerissen. Am Ende steht ein ganz anderes Bild: der standhafte Mensch. Er ist aufgerichtet. Eine aufrichtende Kraft durchzieht die Worte Jesu. Er spricht von Menschen, die trotz ihrer Ohnmacht im Gefängnis Zeugnis geben. Er verheißt, Worte und Weisheit für die Verteidigungsrede einzugeben. Auch wo kurzer Prozess gemacht wird, werden diese Worte nicht verstummen, sondern das Recht bringen. Selbst Hass und Vernichtung haben nicht das letzte Wort und können nichts ausrichten: "Es wird euch kein Haar gekrümmt werden." Standhaftigkeit ist eine Kraft der Auferstehung.

Wann spüren wir diese Kraft ins uns – und wohin drängt sie? Havel beschreibt sie als "Sinn", "Verantwortung", "Hoffnung" und "Horizont". Jeder und jede mag das etwas anders erfahren. Wo einem etwas von der Richtung des Lebens aufgeht, entsteht Hoffnung aus der Tiefe. Es ist, als ob sich eine Tür öffnet, und der Mensch in seine Kraft und Entschiedenheit kommt. Je mehr wir in diese Richtung gehen, desto standhafter werden wir.

Die Verteidigungsrede Havels konnte nicht verhindern, dass er 1979 zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Er endet darin mit den Worten: "Hinter unserer Arbeit steht nicht Feindschaft und Hass, sondern Liebe. Ich möchte klar sagen, dass ich mich nicht schuldig fühle und den Glauben an die Gerechtigkeit nicht verliere." Seine Gegner konnten gegen diese Weisheit letztlich nicht ankommen. Neuer Staatpräsident der Tschechoslowakei wurde im Dezember 1989 Václav Havel.

Vieles kann fallen. In Glaube, Hoffnung und Liebe bauen wir das auf, was bleibt.

Von Schwester Anne Kurz

Evangelium nach Lukas (Lk 21,5-19)

In jener Zeit, als einige darüber sprachen, dass der Tempel mit schön bearbeiteten Steinen und Weihegeschenken geschmückt sei, sagte Jesus: Es werden Tage kommen, an denen von allem, was ihr hier seht, kein Stein auf dem andern bleibt, der nicht niedergerissen wird.

Sie fragten ihn: Meister, wann wird das geschehen und was ist das Zeichen, dass dies geschehen soll? Er antwortete: Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist da. - Lauft ihnen nicht nach! Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken! Denn das muss als Erstes geschehen; aber das Ende kommt noch nicht sofort.

Dann sagte er zu ihnen: Volk wird sich gegen Volk und Reich gegen Reich erheben. Es wird gewaltige Erdbeben und an vielen Orten Seuchen und Hungersnöte geben; schreckliche Dinge werden geschehen und am Himmel wird man gewaltige Zeichen sehen. Aber bevor das alles geschieht, wird man Hand an euch legen und euch verfolgen. Man wird euch den Synagogen und den Gefängnissen ausliefern, vor Könige und Statthalter bringen um meines Namens willen.

Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können. Nehmt euch also zu Herzen, nicht schon im Voraus für eure Verteidigung zu sorgen; denn ich werde euch die Worte und die Weisheit eingeben, sodass alle eure Gegner nicht dagegen ankommen und nichts dagegen sagen können. Sogar eure Eltern und Geschwister, eure Verwandten und Freunde werden euch ausliefern und manche von euch wird man töten.

Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden. Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden. Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.

Der Autor

Anne Kurz ist Schwester der Gemeinschaft Verbum Dei und lebt neben einem kleinen Exerzitienhaus in Venne bei Münster. Sie ist Theologin und Geistliche Begleiterin.

Ausgelegt!

Katholisch.de nimmt den Sonntag stärker in den Blick: Wie für jeden Tag gibt es in der Kirche auch für jeden Sonntagsgottesdienst ein spezielles Evangelium. Um sich auf die Messe vorzubereiten oder zur Nachbereitung bietet katholisch.de nun "Ausgelegt!" an. Darin können Sie die jeweilige Textstelle aus dem Leben Jesu und einen Impuls lesen. Diese kurzen Sonntagsimpulse schreibt ein Pool aus Ordensleuten und Priestern für uns.