Kirchenhistoriker Köster: Moderne Form der Spiritualität, obwohl sie uralt ist

Was Wallfahrten mit Seuchen zu tun haben

Veröffentlicht am 28.05.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Münster ‐ Wallfahrten müssen in diesem Jahr wegen Corona anders stattfinden, wurden verschoben oder sogar komplett abgesagt. Dabei stehen Pandemien und Wallfahrten seit Jahrhunderten in einem besonderen Verhältnis zueinander. Das könnte für heute eine Inspiration sein, sagt Kirchenhistoriker Norbert Köster.

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Vor Kurzem erst hat Bischof Georg Bätzing die diesjährige Wallfahrtssaison eröffnet. Aufgrund der Corona-Pandemie müssen viele große Wallfahrten in den kommenden Monaten aber abgesagt werden. Das sei aus geschichtlicher Sicht einmalig, erklärt der Münsteraner Kirchenhistoriker Norbert Köster. Im Interview spricht er darüber, wieso Seuchen oftmal sogar Auslöser für Wallfahrten waren und warum Wallfahrten auch heute noch für viele Gläubige interessant sind. 

Frage: Herr Köster, viele Wallfahrten in Deutschland haben schon seit Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten Tradition. Der ursprüngliche Anlass dafür waren oft Seuchen. Woran liegt das?

Köster: Der Tod war ein ständiger Begleiter der Menschen. Es war etwas völlig Normales, dass Menschen an Krankheiten, Entzündungen oder Infektionen starben. Wenn aber plötzlich eine Seuche kam – und das konnte sowohl eine Viehseuche sein, die die Lebensgrundlage der Landwirte vernichtete, als auch die Pestwellen im Mittelalter und der frühen Neuzeit –, riss das Familien völlig auseinander und Höfe wurden um ihre Existenz gebracht. Und in solchen Fällen von massiver Bedrohung haben sich die Menschen dann gemeinsam auf den Weg gemacht, oft zu einem Wallfahrtsort in der Nähe. Es gibt eine Fülle von Wallfahrtsorten quer durch Deutschland, die darin ihren Ursprung haben: Menschen suchten gemeinsam einen Ort auf, den sie in einem Tag erreichen konnten, um Gott zu bitten, dass diese Seuche aufhört.

Frage: Wieso ist man dann gerade zu diesen speziellen Orten gegangen?

Köster: Die Wallfahrtsorte haben ja immer ein Wallfahrtsbild. Diese Bilder gelten nicht nur als Darstellung eines Heiligen, sondern wurden immer auch als wundertätig betrachtet. Man ging deshalb zu solchen Orten, von denen man glaubte: Hier ist Gottes Heil ganz besonders nahe, in einer Statue, einer Reliquie oder dem Ort selbst. Auf der anderen Seite hatten Wallfahrten immer auch einen Bußcharakter. Man machte sich auf den Weg und nahm dafür auch einiges an Unbequemlichkeit, Last und Mühe auf sich, um diesen Ort zu erreichen.

Frage: Welche Rolle haben die Wallfahrten denn im Leben der Menschen gespielt?

Köster: Wallfahrten waren vor allen Dingen dann ein wichtiger Punkt, wenn daraus Verpflichtungen wurden. Oft haben Orte, Pfarreien oder Nachbarschaften ein Gelübde abgelegt: "Gott, wenn du uns von dieser Seuche befreist, dann gehen wir ab jetzt jedes Jahr zu unserem Wallfahrtsort." Deshalb haben die Menschen oft über Jahrhunderte hinweg tatsächlich lückenlos daran festgehalten. Oft sind große Wallfahrten auch zu bereits bestehenden Orten entstanden und haben sich dann über Jahrhundert fortgesetzt.

Bild: ©KNA (Archivbild)

Seit November 2019 ist Norbert Köster Professor für Historische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Münster. Zuvor war er von 2016 bis 2018 Generalvikar der Diözese.

Frage: Ist das auch der Grund, warum es viele dieser Wallfahrten noch heute gibt?

Köster: Ja, genau. Die Menschen haben natürlich immer auch ihre eigenen und persönlichen Sorgen und Probleme mitgenommen. Selbst, wenn der große Anlass für die Wallfahrt wegfiel, gab es trotzdem genügend Anlässe für die Einzelnen, zu beten, dass sowas nicht wiederkommt, oder auch die eigenen Sorgen und Nöte des Lebens mit auf den Weg zu nehmen. Das sieht man gerade in der Barockzeit an vielen Votivgaben, die an Heilungen erinnern. Menschen haben zum Beispiel, wenn ihr Arm wieder geheilt war, einen Arm aus Silber machen lassen und diesen am Wallfahrtsort aufgehängt.

Frage: Ähnliche alte Traditionen konnte man vor Kurzem ja auch im Vatikan beobachten: Papst Franziskus ist beispielsweise im März noch zu einem Pestkreuz in Rom gepilgert, um dort zu beten.

Köster: Und er hat es dann ja sogar in den Vatikan geholt für die Karwoche. Ja, diese Stellen waren im Mittelalter und auch in der Neuzeit ganz wichtige Orte des Trostes. Wenn man sehr in Sorge um seine Gesundheit und sein Leben oder das der Mitmenschen ist, dann macht man sich eben gerne auf den Weg. Und so ein Kreuz war dafür ein beliebtes Ziel – und bleibt es auch. Pestkreuze sind bis heute beeindruckende künstlerische Darstellungen von Leid und Zeichen dafür, dass Gott das Leid mitträgt. Das wünschen wir auch heute noch. Insofern wundert es mich nicht, dass solche Bilder gebraucht werden und deshalb passt das ganz gut.

Frage: Wenn man sich die großen Wallfahrtsorte anschaut, steht ja häufig Maria im Zentrum der Anbetung. Warum ist das so? Es gibt doch auch andere Heilige, die Nothelfer sind …

Köster: Die kleineren Wallfahrtsorte haben oft auch "kleinere" Heilige, so gibt es ja etwa die heilige Corona in Bayern. Aber schon seit dem Hochmittelalter ist Maria als Fürsprecherin in vielen Nöten bekannt und beliebt. Deshalb haben Menschen sich schon sehr früh an sie gewandt. Insofern haben Marienwallfahrtsorte immer eine ganz besondere Bedeutung. Man hat sozusagen das Gefühl: "Jetzt gehe ich zur Chefin selbst." Sich an diese Fürsprecherin und Mittlerin zu wenden, hat bei den Katholiken immer schon Tradition.

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Die Corona-Pandemie trifft auch die bekannten deutschen Wallfahrtsorte hart. Viele traditionsreiche Pilgerfahrten mussten abgesagt werden. Nun wartet man in Altötting, Kevelaer und Co. ab, was die Politik sagt – und versucht, die Zeit zu überbrücken.

Frage: Steckt dahinter nicht auch ein mittelalterliches Gottesbild von einem zornigen Gott, der durch eine Wallfahrt besänftigt werden muss, weil er uns mit einer Seuche bestraft?

Köster: Gerade zu den Pestzeiten im Mittelalter hat es zum Beispiel Bußbewegungen gegeben. Aber das Bild eines strafenden Gottes, der eine Pest schickt, war frömmigkeitsgeschichtlich gesehen immer nur eine Vermutung, die sicherlich von Gläubigen und auch von Theologen geäußert wurde. Der Schwerpunkt lag meines Erachtens aber gar nicht auf diesem Bußgedanken, sondern man setzte gerade in Notzeiten darauf, dass Gott gerade in großer Not hilft. Man muss sich vor Augen führen, dass die Menschen gar keine andere Chance hatten, mit einer Seuche umzugehen, weil es keine Medizin gab. Insofern war es nur natürlich, dass man ganz auf die Hilfe Gottes setzte.

Frage: Und wie ist das heute, wo es eine gute medizinische Versorgung gibt?

Köster: Viele Menschen merken heute: An diesem Ort gibt es mehr als Heilung, nämlich inneren Trost. Ich komme gestärkt von diesem Ort wieder zurück. Das ist ein ganz wesentlicher Aspekt, den Pilger heute erleben und den es auch im Mittelalter gegeben hat, dass also Menschen gemerkt haben: Ich werde gestärkt und kann diese Krise auf eine andere Art und Weise bestehen.

Frage: Mit diesem Anliegen kann es also auch heute noch interessant sein, an einer Wallfahrt teilzunehmen?

Köster: Ja, natürlich, das ist ungebrochen. Gerade an großen Wallfahrtsorten gibt es nach wie vor viele Wallfahrten mit Menschen, die das Jahr über sonst vielleicht gar nicht in die Kirche gehen, dort aber mitgehen. Das Schöne ist ja: Jeder geht mit seinen eigenen Sorgen mit und trotzdem gehen alle gemeinsam. Und selbst wenn man die Dinge gar nicht ausspricht, die man im Herzen mitträgt, helfen die anderen mit, die Last des Einzelnen zu tragen. Aus dem Münsterland kann ich sagen, dass diese Wallfahrten auch bei jungen Menschen bis heute sehr beliebt sind. Für viele ist das eine Form der Religion, die viele, heute wichtige Dinge, miteinander vereint: Das Gemeinschaftliche, das Sportliche und die Offenheit dafür, dass mehr Dinge zwischen Himmel und Erde passieren, als sich Menschen oft vorstellen können. Insofern sind Wallfahrten eine moderne Form der Spiritualität, obwohl sie uralt sind.

Von Christoph Brüwer