Nach zehn Jahren Aufarbeitung in Deutschland

Deshalb sucht der Missbrauch die Kirche in immer stärkeren Wellen heim

Veröffentlicht am 23.12.2020 um 13:00 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Seit zehn Jahren kämpft die katholische Kirche in Deutschland mit dem Missbrauchsskandal. Trotz immer neuer Leitlinien, Präventions-Maßnahmen, Entschädigungen und Aufarbeitungs-Gutachten ist ein Ende nicht in Sicht. Im Gegenteil. Doch woran liegt das? Eine Analyse.

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"Es höret nimmer auf!" – mit dieser aus der Lutherbibel entnommenen Formulierung kommentiert der Berliner Theologie-Professor Georg Essen auf Twitter jede neue Nachricht zum Thema sexueller Missbrauch, die er weiterverbreitet. Wieder und wieder geht der Satz wie ein Stoßseufzer durch die katholische Twitter-Community, und der Rhythmus wird neuerdings immer schneller.

Die jüngsten Fälle sind Meldungen über den wachsenden Druck auf den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki und den Hamburger Erzbischof Stefan Heße wegen Vorwürfen der Missbrauchsvertuschung (oder gar der Strafvereitelung). Erstmals seit dem Ausbruch des Missbrauchs-Skandals im Umfeld des Berliner Canisius-Kollegs der Jesuiten im Januar 2010 werden ehemalige und amtierende Bischöfe öffentlich und namentlich beschuldigt, ihre Aufsichtspflicht verletzt zu haben, so dass deutschlandweit Dutzende, wenn nicht Hunderte klerikale Missbrauchstäter ungestraft davonkommen konnten. Hinzu kommen Berichte über ein schauerliches Netzwerk von Nonnen, die in der Pfalz und in Bayern Heimkinder pädophilen Priestern zum Missbrauch zugeführt haben sollen.

2018 schlossen die Bischöfe einen Rücktritt noch aus

Neben den eigentlichen, meist längst verjährten Verbrechen des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen rückt jetzt die Frage nach der persönlichen Verantwortung einzelner Bischöfe und kirchlichen Verwaltungschefs in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Noch als 2018 in Fulda die umfangreiche Missbrauchs-Studie mit 1.670 mutmaßlichen Tätern aus kirchlichen Personalakten seit 1946 vorgestellt wurde, schlossen die anwesenden Bischöfe eigene Rücktritte wegen des Skandals aus. Man konzentrierte sich auf Prävention gegen künftige Fälle, auf Entschädigungszahlungen und die Erforschung der "systemischen" Ursachen. Gemeint war damit das schwer zu entwirrende Geflecht aus katholischer Sexualmoral und klerikalen Macht- und Loyalitäts-Strukturen, das als sehr spezielles Biotop pädophile und ephebophile Männer anzog und ihnen in seinem Halbdunkel immer wieder neue geschützte, meist straffreie Räume bot.

Um diesem Sumpf das Wasser abzugraben, wurde zum einen der Synodale Weg gestartet. In offenen Debatten wollten Bischöfe und Laien die katholische Kirche in Deutschland so neu aufstellen, dass derartige Verirrungen nicht mehr möglich sind. Enge Sexualmoral, priesterliches Leben im Zwangszölibat, Männerbünde und klerikale Macht-Oligopole sollten ersetzt werden durch eine geschwisterlichere, demokratischere, gleichberechtigtere und transparentere Kirchenstruktur. Doch weil diese strahlende Zukunftsvision nicht realisiert werden kann, solange die Verbrechen der Altvorderen den zukunftsgewandten Kirchenleuten wie Mist an den Füßen kleben, musste erst einmal das Großreinemachen beginnen. Deshalb setzten mehrere Bistümer Aufarbeitungskommissionen ein, die genau untersuchen sollten, wer wann was wusste, wer welchen Täter gedeckt und eventuell durch Versetzung an andere Wirkungsstätten neue Taten zumindest indirekt begünstigt hat.

Bild: ©dpa/Arne Dedert (Symbolbild)

Anders als bei der MHG-Studie werden jetzt auch Namen genannt.

Nun wurden von unabhängigen Juristen und Historikern abermals Kilometer von Akten gesichtet und bewertet, aber anders als bei der anonymisierten MHG-Studie von 2018, die am Ende nur Zahlen und Prozentwerte hervorbrachte, werden diesmal Namen genannt. Und unter den Namen sind nicht nur verstorbene oder längst pensionierte Verantwortungsträger, sondern auch solche, die wie Heße, oder Woelki heute in Amt und Würden sind.

Neben diesem Quantensprung spielt eine Verschärfung des Kirchenrechts eine große Rolle, die im vergangenen Jahr in Kraft trat. Sie ist ein Ergebnis des weltweiten Anti-Missbrauchsgipfels, der im Februar 2019 im Vatikan stattfand. Nachdem in Irland, Chile und den USA Bischöfen nachgewiesen wurde, dass sie ihre Aufsichtspflicht gegenüber sexualkriminellen Priestern vernachlässigt hatten, führte Papst Franziskus ein Verfahren ein, um Unterlassungen und auch aktive Vertuschungsmanöver auch und gerade von Bischöfen ahnden zu können.

Durch konkrete Fälle wächst der Druck auf Bischöfe

Die Kombination von beidem – die Aufdeckung der Klarnamen der Vertuscher durch die neuen Gutachten und ein neuer Rechtsweg zu ihrer Sanktionierung – bringt nun amtierende und pensionierte Bischöfe und Generalvikare in eine Bedrängnis, die noch 2018 kaum jemand voraussehen konnte.

Hinzu kommt, dass durch das neuerliche, diesmal auf konkrete Einzelfälle zielende Aktenstudium immer wieder Details zu den Verbrechen selbst ans Tageslicht kommen. Was in der MHG-Studie bloß ein Zählstrich für die Statistik war, wird nun zu einem Fall, der – egal wie lange schon verjährt – plötzlich wieder in all seiner Schrecklichkeit in der Öffentlichkeit steht. Konkret: Wäre es nicht ein Kindergartenkind gewesen, an dem sich vor mehr als 35 Jahren jener Düsseldorfer Priester vergriffen haben soll, den Woelki dann 2015 als schwerkranken und dementen Greis nicht mehr mit Ermittlungen behelligte, die allgemeine Empörung hätte sich vermutlich in Grenzen gehalten. Und hätte es nicht in anderen Ländern, selbst in Polen erst vor zwei Monaten, Bischöfe gegeben, die wegen Nichtermittlung gegen Straftäter ihr Amt aufgeben mussten, wäre der Gedanke an Bischofsrücktritte auch in Deutschland wohl noch immer ziemlich abwegig. So aber wächst der Druck, auch der von der kirchlichen Basis.

Von Ludwig Ring-Eifel (KNA)