Das "Nordische Modell" steht zur Diskussion

Sexarbeit verbieten? Katholische Akteure sind gespalten

Veröffentlicht am 02.06.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Seit Jahrtausenden verkaufen Menschen Sex – vor allem Frauen. Einige Frauen werden aber auch Opfer von Menschenhandel. Hilft da ein Verbot der Prostitution? Katholische Verbände sind sich in der Frage uneins, die Diskussion wird gerade wieder lauter.

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Das geflügelte Wort vom "ältesten Gewerbe der Welt" kommt nicht von ungefähr: Solange es Menschen gibt, haben sich auch schon Menschen für Sex bezahlen lassen. Schon antike Relikte zeugen davon. Ebenfalls eine jahrhundertealte Tradition hat die Verdammung dieser Branche beispielsweise auch in der Kirche: Luther ließ die Bordelle schließen, der Katechismus der katholischen Kirche spricht von einer "Geißel der Gesellschaft" (KKK 2355), die immer "schwer sündhaft" sei; auch die Vereinten Nationen schrieben 1949, Prostitution sei "mit der Würde und dem Wert der menschlichen Person unvereinbar". Im April haben sich nun 30 Vereine und Initiativen zusammengetan, um für das "Nordische Modell" zu werben – darunter der Katholische deutsche Frauenbund (KDFB). Zum "Internationalen Hurentag" am 2. Juni demonstrieren Befürworter in Berlin für das Modell. Die Diskussion um die Prostitution hat damit eine neue Dynamik bekommen – und die Stimmen für deren Verbot werden lauter.

"Sexarbeit geschieht in den allermeisten Fällen unfreiwillig und unter Zwang", sagt etwa die stellvertretende KDFB-Vorsitzende Sabine Slawik im Gespräch mit katholisch.de. "Sie ist menschen- und frauenverachtend, die Langzeitschäden sind immens." Der KDFB engagiert sich für ein Verbot des Sexkaufs in Deutschland, wie es etwa einige skandinavische Länder bereits praktizieren, das entsprechende Konzept wird deshalb "Nordisches Modell" genannt. Verboten ist dabei der Kauf von Sex, nicht aber das Angebot – die Freier werden also bestraft, die Sexarbeitenden nicht. Dadurch soll die Stigmatisierung bei den Kaufenden und nicht bei den Verkaufenden liegen. Zum Verbot kommen vielfältige Aufklärungsangebote und Ausstiegshilfen.

Slawik geht davon aus, dass 90 Prozent aller Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter (in dieser Branche arbeiten in der ganz überwiegenden Mehrheit Frauen) Opfer von Menschenhandel sind. Sie würden vor allem aus südosteuropäischen Ländern mit dem Versprechen einer gut bezahlten Arbeit nach Deutschland gelockt und kämen hier in einen Teufelskreis, aus der sie nicht mehr herauskämen. Der KDFB folgt damit der Linie der Ordensfrau Schwester Lea Ackermann, die sich mit ihrer Organisation "SOLWODI" seit vielen Jahren für Frauen in der Sexarbeit und für ein Verbot dieser Branche einsetzt.

Form des Menschenhandels: Die "Loverboy-Methode"

Das System wird auch "Loverboy-Methode" genannt. Diese Form des Menschenhandels, beschreibt eine ehemalige Sexarbeiterin auf der Webseite des Anti-Prostitutions-Netzwerks "Ella" so: "Er liegt vor, wenn eine Frau von Bekannten oder gar Verwandten unter falschen Job-Versprechungen nach Deutschland 'eingeladen' wird, nur um dann vor der 'Wahl' Bordell oder Obdach- und Mittellosigkeit zu stehen, weil der Putzjob im Hotel gar nicht existiert." Die Frauen müssten Geld an ihre Familien in den Herkunftsländern schicken und den Großteil des erwirtschafteten Geldes an die Männer bezahlen, so Slawik. Zudem würden sie stets von Stadt zu Stadt gebracht, sodass sie kaum orientiert seien. Zusammen mit fehlenden Sprachkenntnissen seien sie in einer Lage, aus der sie sich kaum selbst befreien könnten.

„Zwang kann man nicht pauschalisieren – unter wirtschaftlichen Zwängen steht schließlich jeder.“

—  Zitat: Maike van Ackern

Das ist die eine, von Gegen-Aktivistinnen und -Aktivisten vorgebrachte Seite der Sexarbeit, die dem Bild von sich selbstbestimmt für diesen Beruf entscheidenden Frauen gegenübersteht. Die Diskussion über dieses Thema ist nicht ganz einfach, weil viele Zahlen in Umlauf sind, die sich zum Teil ganz elementar widersprechen. Das fängt schon bei der Frage an, wie viele Sexarbeiterinnen es in Deutschland gibt. Schätzungen schwanken zwischen 200.000 und einer Million – reichlich nebulös. Auch, wie viele davon ihren Beruf aus freien Stücken ausüben und wie viele dazu gezwungen werden, ist fraglich – die von Slawik genannten 90 Prozent werden zum Teil mit großer Vehemenz angezweifelt.

"Zwang kann man nicht pauschalisieren – unter wirtschaftlichen Zwängen steht schließlich jeder", wirft Maike van Ackern ein. Sie leitet die Beratungsstelle "Freiraum" in Essen, ein Projekt der cse (Caritas / Sozialdienst katholischer Frauen / Essen) für Frauen in der Sexarbeit. Sie warnt davor, Menschenhandel und Sexarbeit zu vermischen: "Menschenhandel ist zu Recht verboten, Sexarbeit die selbstbestimmte Entscheidung einer Frau", sagt sie katholisch.de. Aus ihrer Erfahrung kann sie nicht bestätigen, dass die meisten Frauen Opfer von Menschenhandel seien. Sie nimmt eher eine große Vielfalt wahr: Die meisten Frauen entschieden sich wegen des Geldes zum Gang in die Sexarbeit, denn damit ließe sich in kurzer Zeit eine größere Summe organisieren. "Dahinter können akute Geldsorgen stehen, Drogensucht – aber auch der Wunsch nach einem neuen Auto, einem Urlaub oder Weihnachtsgeschenken." Daneben gebe es auch Frauen, die schlicht aus ihren persönlichen Vorlieben ein geldwertes Hobby machen wollten. Van Ackern schätzt, dass von den Frauen, die zu ihr kommen, etwa zwei Drittel haupt- und ein Drittel nebenberufliche Sexarbeiterinnen sind. In der Beratungsstelle werden die Frauen über Risiken und Rahmenbedingungen in der Sexarbeit aufgeklärt. Persönliche Zuwendung fordern die Frauen weniger ein – mentale Unterstützung geben sie sich lieber untereinander. Für van Ackern ist wichtig, kein Urteil über die Frauen zu sprechen: "Man sollte da nicht die eigenen Moralvorstellungen auf andere projizieren. Wenn die Frauen das machen wollen, ist das völlig in Ordnung." Deshalb ist van Ackern und mit ihr der Verbund aus SkF und Caritas gegen ein Sexkaufverbot.

Bis 2002 war Sexarbeit in Deutschland sittenwidrig

Dass mit der Forderung nach einem Verbot ein neuer Umgang mit Sexarbeit gefordert wird, ist nichts Neues – die Bewertung dieser Tätigkeit hat sich schon häufiger geändert: Bis 2002 galt Sexarbeit in Deutschland als sittenwidrig, das machte es Frauen schwer, zahlungsunwilligen Kunden beizukommen – denn die Frauen taten im Prinzip etwas Verbotenes. 2002 wurde der Verkauf von Sex legal, seit 2017 gibt es das Prostituiertenschutzgesetz, mit dem sich die Bedingungen der Frauen verbessern sollten: Sie müssen sich nun anmelden und werden dann wie andere Selbstständige behandelt, zudem brauchen Bordelle eine Betriebserlaubnis. Das Problem: Nur die wenigsten Menschen in der Sexarbeit melden sich an, Schätzungen zufolge sind die 40.000 Angemeldeten nur etwa zehn Prozent der Branche. Die Gründe dafür sind vielfältig: Einerseits ist der Anmeldeprozess je nach Kommune schwer durchschaubar und aufwendig, andererseits kann der Besitz der "Hurenpass" genannten Anmeldungsurkunde stigmatisierend wirken. Die geringe Anmeldezahl ist allerdings für die gesundheitliche und soziale Absicherung der Sexarbeitenden nachteilig.

Ist das Verbot von Sexkauf nach dem "Nordischen Modell" also die Lösung? Sabine Slawik sieht das so. "Dadurch haben dann nicht mehr die Frauen das Manko der Stigmatisierung, sondern die Männer." Bei Konflikten zwischen Frauen und Freiern hätten die Frauen durch das Verbot das Heft in der Hand, da sie den Mann ja jederzeit anzeigen könnten. In den Ländern, in denen es das "Nordische Modell" gebe, habe sich ein ganz neues Bewusstsein gegenüber der Sexarbeit entwickelt – besonders auch durch die verstärkt betriebene Aufklärungsarbeit. Durch die Bestrafung der Freier werde Sexarbeit zwar nicht verschwinden, jedoch ein klares Zeichen für die Frauen gesetzt. Es sei nötig, so Slawik, Prostituierte gänzlich zu entkriminalisieren, denn für die eigene Ausbeutung dürften sie keiner Strafe unterworfen werden. Nötig seien konkrete Ausstiegshilfen wie soziale und finanzielle Unterstützung, Aufenthaltsgenehmigungen für ausländische Betroffene, medizinische und psychologische Gesundheitsversorgung sowie Zugang zu Bildung und Berufsmöglichkeiten.

Bild: ©picture alliance/Markus Scholz

Momentan sind die Rotlichtviertel wegen der Corona-Pandemie leer - wie hier die Herbertstraße in Hamburg.

Maike van Ackern bezweifelt, dass ein Verbot die Lösung sein kann. "Die Frauen, die das selbstbestimmt machen, verlieren ihre Lebensgrundlage – und weder Menschenhandel noch Sexarbeit werden dadurch verschwinden." Das Ziel müsse eher sein, die Bedingungen für die Frauen so gut zu machen, dass niemand aus Zwang in dieser Branche arbeiten müsse. "Ein Verbot würde das Gegenteil bewirken, weil die Frauen dann versteckter arbeiten müssen und sich dadurch größere Abhängigkeitsverhältnisse von den Freiern herausbilden und wir als Sozialarbeiterinnen an die Frauen nicht mehr herankommen." Das habe auch der Blick auf die skandinavischen Länder gezeigt. Diese würden sich zwar für das "Nordische Modell" feiern – "aber zu Unrecht", sagt Maike van Ackern. Vielmehr bestätigten Studien, dass ein Sexkaufverbot den Menschenhandel nicht verhindern könne und er sich durch das Agieren im Dunkelfeld eher noch verschlimmere.

Menschenhandel ist schon verboten

Ganz entschieden gegen das "Nordische Modell" ist auch die Sexarbeiterin Johanna Weber. Sie ist die politische Sprecherin des Berufsverbands erotischer und sexueller Dienstleistungen – und sieht ein wichtiges praktisches Problem: "Momentan habe ich von meinen Kunden die Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Gäbe es das Verbot, würden alle nur mit unterdrückten Nummern anrufen – wie soll ich da am Ende jemanden anzeigen?" In Schweden habe das Verbot eher dazu geführt, dass sich Frauen mit ihren Freiern draußen vor den Städten in Wäldern treffen oder sich illegal Hotelzimmer mieten. Vorteile für Opfer von Menschenhandel sieht sie nicht: "Das ist in Deutschland auch jetzt schon verboten – was soll ein weiteres Verbot da ändern?" Sie merkt zudem an, dass es zu einfach gedacht sein, bei Menschenhandel nur an mit körperlicher Gewalt agierende Zuhälter zu denken. Das laufe subtiler und psychischer ab: "Oft haben sich die Frauen in die Männer, die sie ausbeuten, verliebt oder sie sogar geheiratet. Dem kommen Sie nicht mit einem Gesetz bei, da müssen Sie mit den Frauen arbeiten und ihnen zeigen, wohin sie sich wenden können, wenn sie aus dieser dysfunktionalen Beziehung raus wollen."

Auf der anderen Seite stehe das Engagement der Freier, gibt van Ackern zu bedenken. Die seien für Opfer von Menschenhandel ein wichtiger Kontakt: "Oft geben Freier einer Sexarbeiterin den ersten entscheidenden Tipp zu Hilfsangeboten oder fahren sie sogar zu einer Beratungsstelle oder zur Polizei. Das würden sie natürlich nicht mehr machen, wenn sie dann bestraft werden würden." Weiterhin seien die Frauen durch ihr Handeln in der Illegalität kaum mehr für Beratungsangebote greifbar – was es noch schwerer mache, bei Fällen von Menschenhandel einzuschreiten.

Dossier: Frauen und Kirche

Apostelin, Theologin, Seelsorgerin, Ehrenamtlerin - und Glaubende: Frauen spielen eine wichtige Rolle in der Kirche. Mit diesem Dossier will katholisch.de dem gerecht werden und hat Artikel zu unterschiedlichen Bereichen zusammengestellt.

Worin sich Stimmen für und gegen das "Nordische Modell" einig sind: Es muss mehr Ausstiegsmöglichkeiten aus der Sexarbeit geben – denn das kann für viele Frauen sehr schwierig werden, wenn sie beispielsweise keinen Schulabschluss haben. Insbesondere wenn diese aus Südosteuropa kommen, brauchen sie mindestens mittelfristige Alternativen – schließlich müssen sie noch Geld in die Heimat schicken. Ein Putzjob reicht da nicht. Ein Problem ist auch hier wieder die Stigmatisierung. Wer beim Bewerbungsgespräch auf die Frage, was man denn die vergangenen Jahre gemacht habe, mit "Sexarbeit" antwortet, ist schnell raus. Es ist also eine Verbindung aus (Weiter-)Bildungsangeboten und einer Änderung der gesellschaftlichen Bewertung der Menschen in der Sexarbeit, die auch das Verlassen dieses Zweigs vereinfachen können.

Verbot wegen Corona-Pandemie

Nun ist wegen der Corona-Pandemie momentan Sexarbeit generell verboten – wenn auch gerade die Straflast (wieder wie vor 2002) bei den Anbietenden liegt. Was sich schon beobachten lässt: Sexarbeit gibt es trotzdem immer noch; nun fernab bekannter, dafür eingerichteter Orte, ohne Zugangsmöglichkeit für Gesundheits- und Beratungsangebote. Der Grund ist einfach: Viele Menschen in der Sexarbeit verdienen schon unter normalen Umständen nicht viel Geld. Sie müssen auch in der Verbotssituation weiterarbeiten, um ihr Leben weiter finanzieren zu können.

Ob mit oder ohne Verbot: Es ist noch viel zu tun. Einerseits ist die Bekämpfung des Menschenhandels eine große Aufgabe. Das geschieht durch Sozialarbeitende, aber auch durch Freier. Um dabei mithelfen zu können, ist Aufklärung nötig: Sowohl für die Anbietenden, damit sie ihre Rechte und Pflichten kennen, wie auch für die Kaufenden, damit sie Anzeichen für Zwang und Menschenhandel erkennen können.  Die Frage nach einem Verbot hat die Fronten zwischen Befürwortern und Gegnern verhärtet. Viele Informationsangebote sind mittlerweile auch durch die jeweilige Interessenlage gefärbt. Dem Anliegen, Frauen zu schützen und zu unterstützen, hilft das sicher nicht weiter.

Von Christoph Paul Hartmann