Standpunkt

Die Lehren aus Afghanistan – auch eine Frage für die Theologie

Veröffentlicht am 02.09.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Zeigt das Desaster in Afghanistan, dass Respekt vor der islamischen Kultur weiser wäre als der bloße Export westlicher Werte? Joachim Valentin fordert, diese Frage auch theologisch zu klären – und verweist auf ein "unterschätztes" Konzilsdokument.

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"Der Verrat lag nicht im Rückzug" aus Afghanistan, "er lag im Schwur, das Land nach der Befreiung vom Islamistenregime in eine westlich inspirierte Demokratie zu verwandeln und die afghanischen Helfer dabei nicht im Stich zu lassen." So schreibt der Politologe Jochen Buchsteiner im gestrigen FAZ-Feuilleton und entwickelt ausführlich und überzeugend, dass unsere Vorstellung, aus der ganzen Welt bewegten sich Flüchtlingsströme nach Europa und den USA, weil die westlichen Demokratien eben nach wie vor das ideale Modell für alle Menschen und Gesellschaften seien und die Moderne immer die bessere Alternative für vom Islam, Konfuzianismus, Hinduismus oder anderen Weltanschauungen geprägten Gegenden sei, wohl nicht zutrifft.

Es ist noch zu früh, um weitreichende kulturpolitische Schlussfolgerungen aus dem Desaster in Afghanistan zu ziehen. Aber es sprechen doch schon jetzt viele Zeichen dafür, dass der Westen, die Nato und erst recht die USA sich bei ihren oft zweifelhaften "Hilfsaktionen" nicht nur materialiter überfordert haben, nicht nur im Verhältnis zwischen militärischer Gewalt und humanitärer Hilfe verblendet, sondern ganz grundsätzlich von der falschen Voraussetzung ausgegangen sind, "nation building" bedeute eine Art Eins-zu-eins-Transplantation westlicher Rechtstaatlichkeit und ihrer Werte in dezidiert nichtwestliche Gesellschaften.

Dahinter liegt laut Buchsteiner auch die drängende Frage nach der Universalität westlicher Werte, die sich in ihrem Kern auch dem Christentum verdanken, und natürlich die komplexe Debatte um die subtile Gewalt postkolonialer Abhängigkeitsverhältnisse auf allen Ebenen. Bitter berichtet er von einem Abend mit afghanischen "Hipstern", der ganz selbstverständlich ohne Alkohol und geschlechtergetrennt ablief.

Sollte also der Respekt, der im unterschätzten Konzilsdokument "Nostra aetate" nicht nur dem Islam entgegengebracht wird, sondern auch asiatischen und sogar animistischen Kulturen – sie lassen schließlich "nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen, die alle Menschen erleuchtet" – weiser sein als die bis dato praktizierte Mission, die durch die schrecklichen Funde in Kanada neu in Misskredit gerät? Ja vielleicht sogar weiser als die Vorstellung eines weltumfassenden säkularistischen Kulturexports, wie er bis heute betrieben wird? Fragen, die in der nächsten Zeit gestellt und auch theologisch beantwortet werden sollten.

Von Joachim Valentin

Der Autor

Joachim Valentin ist Direktor des katholischen Kultur- und Begegnungszentrums "Haus am Dom" in Frankfurt am Main und Vorsitzender des Frankfurter Rates der Religionen.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.