Rainer Bayreuther hat Buch über Gott und Digitalität geschrieben

Theologe: Die Technik formt den Glauben

Veröffentlicht am 20.02.2023 um 12:15 Uhr – Lesedauer: 

Bayreuth ‐ Eine digitaler werdende Welt wird sich auch in der kirchlichen Dogmatik niederschlagen, glaubt der Theologe Rainer Bayreuther. Im katholisch.de-Interview spricht er über Glaubenstechniken und wie darin auch der Allmächtige zum Akteur wird.

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Die Welt wird immer digitaler – das geht schon lange über den sprichwörtlich mitdenkenden Kühlschrank hinaus. Wo steht die Religion da? In seinem neuen Buch hat sich der Theologe und Musikphilosoph Rainer Bayreuther mit dem christlichen Gottesglauben und der Digitalität befasst. Im Interview spricht er über eine besondere Technik und den prozesshaften Gott.

Frage: Herr Bayreuther, wie passen Glaube und digitale Technik zusammen?

Bayreuther: Glauben ist eine Technik. Legen wir unseren Fokus mal nicht darauf, an was wir glauben, also Gott und so vieles mehr. Sondern auf das Glauben an sich, den Vorgang, die Prozedur des Glaubens. Wenn wir das in den Vordergrund stellen, dann sind wir in einem sozusagen technischen Denken.

Frage: Technik kommt oft eher unemotional und berechnend herüber. In einem Smartphone zum Beispiel sind zahlreiche Kleinteile verbaut – und dass es das Gerät überhaupt gibt, ist das Ergebnis wirtschaftlicher Erwägungen. Wie kann in einem solchen Umfeld Frömmigkeit aussehen?

Bayreuther: Diese Skepsis ist durchaus angebracht, die habe ich selbst auch. Es liegt im Wesen der Technik – das sehen wir schon bei Prometheus –, dass der Mensch sie für seine Zwecke einsetzt. Er will einen Prozess anstoßen und zu seinem Ziel kommen. Das ist aber kein Widerspruch dazu, Technik auch für den Weg zu Gott einzusetzen – oder Gott als Akteur zu sehen, der einen Weg zu einem Ziel bahnen will. Wir stellen uns doch Gott genau als den vor, der viel mächtiger als alle menschlichen Zielsetzungen ist, die mit Technik umgesetzt werden. Er ist derjenige, der mit allem in der Welt – auch den Menschen – zum Ziel kommen will. Insofern sind das vielleicht nur unterschiedliche Maßstäbe. Das eine ist der menschliche Maßstab und eine menschliche Zielsetzung, das andere eine göttliche Intervention. Ich finde es auch spannend, dass es da eine Überschneidung gibt. Man schaue sich an, wie die großen Tech-Giganten ständig pseudo-religiöses Vokabular in den Mund nehmen, das kommt nicht von ungefähr. Das ist natürlich einerseits eine Anmaßung, aber andererseits steckt da auch ein Stück Wahrheit drin.

Frage: Verändert Technik also auch den Glauben?

Bayreuther: Die Technik formt den Glauben. Das ergibt sich schon daraus, wenn man sich klarmacht, wie stark unsere Glaubenspraktiken technisch implementiert sind. Das muss gar nicht digital sein, aber technisch im weitesten Sinne: im Rosenkranz, im Handauflegen beim Segnen. Wenn man sich das bewusst macht, sehen viele christlichen Dinge anders aus, zum Beispiel auch die Dogmatik. Ich glaube, viele Bereiche des Christentums würden ihre Technikphobie aufgeben, wenn sie sich das Technische in ihren frommen Kulturtechniken bewusst machten.

Bild: ©Privat

Rainer Bayreuther lehrt Musikwissenschaft an der Hochschule für evangelische Kirchenmusik Bayreuth.

Frage: Und andersherum? Formt auch der Glaube die Technik?

Bayreuther: Um 2008 haben Religionswissenschaftler Frömmigkeit in Zeiten sinkender Kirchenbindung untersucht. Sind die Leute ohne Kirche weniger fromm? Ergebnis: Nein! Die Menschen haben zwar immer weniger mit Kirche zu tun, aber die Frömmigkeit nimmt nicht ab. Vielleicht sogar im Gegenteil. Sie verlagert sich auf nichtkirchliche Bereiche. Da sind auch technische Bereiche dabei, etwa Meditationstechniken mit mehr oder weniger technischer Unterstützung. Das verändert für mich stark das Verständnis von Kirche.

Frage: Wie gut ist denn das Christentum in seiner gegenwärtigen Form auf einen technikvermittelten Glauben eingestellt?

Bayreuther: Zum einen lässt sich bei den beiden großen Konfessionen erkennen, dass sie auf die Höhe der Zeit kommen möchten, etwa wenn es um die Nutzung der Sozialen Medien für die Seelsorge geht. Da hat ein Sinneswandel stattgefunden in den letzten fünf Jahren. Zum anderen ist die Kirche aber noch nicht gut auf den digitalen Wandel eingestellt. Denn sie hängt in einem Denkfehler fest: Man meint, dass man den eingeübten christlichen Glauben einfach nur durch die jeweils aktuellen Medienkanäle durchschleusen müsse – dann käme genau derselbe Glaube heraus, wie wir ihn vorher mit einem analogen Gesangbuch oder ähnlichem praktiziert haben. Das ist ein Selbstbetrug. Der Glaube besteht aus Glaubenspraktiken und Glaubenspraktiken sind im weitesten Sinn technische, mediale Vorgänge – dann verändert sich der Glaube mit seinen Medien. Dem muss man ins Auge blicken. Aber der christliche Gott hält das aus.

Frage: Wie sieht denn ein medial vermittelter, mit medialen Techniken umgesetzter Glaube in der Gegenwart und vielleicht auch in der Zukunft aus?

Bayreuther: Wenn ich sage, dass das alles medienabhängig ist, dann hängt der Glaube davon ab, wie sich die Medien entwickeln. Das ist ein Teil der Antwort. Ich glaube, die dogmatische und praktische Gestalt des christlichen Glaubens wird viel kurzlebiger, volatiler. Das ist auch gar nicht schlimm. Man muss sich nur darauf einstellen, denn sie wird sich mit den Medien wandeln. Wenn wir in zehn Jahren diese und jene Medienpraktiken haben, dann wird das unsere Vorstellung von Jesus Christus umgeformt haben.

Bischof José Ornelas bei einem Livestream eines Gottesdienstes
Bild: ©picture alliance/EPA-EFE | RUI MINDERICO

Nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie wurde und wird vermehrt auch auf digitale Mittel zum Glaubensleben zurückgegriffen.

Frage: Ein großer Erfolgsfaktor der Sozialen Medien sind Algorithmen, die jedem Individuum aufgrund genauer Berechnungen eigene Inhaltsmischungen ausspielen. Wird durch solche Mechanismen der Glaube auch individueller?

Bayreuther: Davon bin ich fest überzeugt. Das liegt in der Natur und in der Möglichkeit der Medien, dass sie viel lokaler agieren, in Maßanfertigungen, für einen Menschen an einem bestimmten Tag. Das trifft die Natur des Glaubens: Ich bin morgen ein anderer, als ich heute bin, denn Gott verändert mich. Dahingehend wird sich das Christentum entwickeln. Individualisiert denken wir ja auch schon, wenn wir in der Kirche vom Kalender oder dem Standort einer Gemeinde aus agieren. Das wird künftig mit voller medialer Unterstützung stattfinden, vermutlich auf Kosten des kirchlichen Überbaus, aber zugunsten der jeweiligen Glaubensorte.

Frage: Wie sollte sich die Kirche darauf auch dogmatisch einstellen?

Bayreuther: Indem sie das Prozesshafte viel stärker akzentuiert. Indem sie zu so etwas wie einer Prozesstheologie kommt. Sie muss aufhören, immer dichotomisch zu denken: Auf der einen Seite der ewige, unwandelbare, aber irgendwie auch ferne, unerreichte Gott. Auf der anderen Seite unser Erdenchaos, das sich permanent wandelt. Diese Zweiteilung stimmt meiner Ansicht nach nicht. Man müsste sie aus der Theologie und der Dogmatik entfernen.

Frage: Das heißt, man muss auch Gott prozesshafter denken.

Bayreuther: Unbedingt. In der katholischen Frömmigkeit gibt es dazu spannende Ansätze: Die Heiligenverehrung oder Verehrung von Orten, an denen ein göttliches Wunder stattgefunden hat. Dieser Bereich ist sehr ereignishaft, es ist eine prozesshafte Frömmigkeit. Die sollte ins dogmatische Zentrum geholt und als eine Gotteslehre aufgefasst werden. Wir arbeiten gern die Gotteslehre und Christologie für sich aus, viel später kommt dann die Pastoraltheologie. Aber die Pastoral ist die Gotteslehre, sie ist die Christologie. So sollte man in der digitalen Ära die Sache denken.

Von Christoph Paul Hartmann

Buchtipp

Rainer Bayreuther: Der digitale Gott. Glauben unter technologischen Bedingungen. Claudius Verlag, München 2023, 272 Seiten, 26 Euro. ISBN: 978-3-532-62877-5