Bistumsverantwortliche hätten unangemessen reagiert oder vertuscht

Sonderermittler: Priester Dillinger missbrauchte 19 Personen sexuell

Veröffentlicht am 07.05.2024 um 14:34 Uhr – Lesedauer: 

Trier ‐ Es ist ein verstörendes Fazit: Der Priester Edmund Dillinger aus dem Bistum Trier habe über Jahrzehnte "das Gegenteil" dessen gelebt, was er gepredigt habe. Der Abschlussbericht der Sonderermittler offenbart ein größeres Ausmaß als bisher bekannt.

  • Teilen:

Der Missbrauchskomplex um den Priester Edmund Dillinger (1935-2022) aus dem Bistum Trier hat ein größeres Ausmaß als bislang bekannt. Nach Erkenntnissen von Sonderermittlern hat Dillinger mindestens 19 Personen sexuell missbraucht. Die Missbrauchstaten in "verschiedenen Schweregraden" habe er in der Zeit von 1961 bis 2018 begangen, heißt es in dem am Dienstag in Trier vorgestellten vorläufigen Abschlussbericht des ehemaligen Koblenzer Generalstaatsanwalts Jürgen Brauer und des früheren stellvertretenden Leiters der Staatsanwaltschaft Trier, Ingo Hromada. Elf Opfer seien namentlich bekannt. Zudem seien "sehr viele Personen", deren Zahl nicht annähernd zu beziffern sei, Opfer von sexuell motiviertem Verhalten Dillingers geworden, "indem sie in sexualisierten Posen fotografiert wurden, Berührungen in allen Körperregionen ausgesetzt waren oder Annäherungsversuche abwehren mussten". Die 96-seitige Studie kommt zu dem Schluss, "dass Dillinger über Jahrzehnte das Gegenteil dessen vorlebte", was er predigte.

"Die Verantwortlichen im Bistum Trier" hätten insbesondere 1964 und 1970 unangemessen auf bekanntgewordene Missbrauchsfälle reagiert und "diese vertuscht", heißt es in dem Bericht weiter. Bischöfe im Bistum Trier seit den 1960er-Jahren waren Matthias Wehr (1951-1966), Bernhard Stein (1967-1980), Hermann Josef Spital (1981-2001), Reinhard Marx (2002-2008) und Stephan Ackermannn (seit 2009). In den Pfarreien, in denen Dillinger als Seelsorger tätig war oder wohnte, sowie in Vereinen, Verbänden und Verbindungen seien "Vorfälle totgeschwiegen" und Hinweisen oder "offenen Geheimnissen" nicht nachgegangen worden, so der Bericht. Zudem habe die frühere Schulleitung des Max-Planck-Gymnasiums in Saarlouis Dillinger "nicht ausreichend überwacht"; dort war er von 1979 bis 1999 Religionslehrer.

Brauer und Hromada untersuchen den Komplex im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Bistum Trier (UAK). Dillinger (1935-2022) war Priester in Kirchengemeinden im Saarland und in Rheinland-Pfalz. In seinem Besitz wurden nach seinem Tod tausende Fotos gefunden – darunter laut Staatsanwaltschaft Mainz zehn strafrechtlich relevante jugendpornografische Aufnahmen und zwölf Fotos im Grenzbereich zur Jugendpornografie.

UAK: "Es ist kaum zu begreifen..."

"Es ist kaum zu begreifen, dass eine Persönlichkeit wie Dillinger über Jahrzehnte im Dienst der Kirche verbleiben konnte – trotz allen Wissens über seine Übergriffigkeiten und Missbrauchstaten", unterstreicht die UAK. Erst 2012 verbot das Bistum Dillinger, Messen zu feiern und Kontakt zu Jugendlichen zu haben. "Die Tatenlosigkeit und das Wegschauen von kirchlichen Verantwortlichen – was nur als bewusste Vertuschung gewertet werden kann – diente zuvörderst dem Schutz des guten Namens der Kirche und des Bistums", betont die UAK: "Alle Hinweise auf die Taten Dillingers wurden weitgehend ignoriert." Mit "großer Verärgerung" beklagen die Studienautoren, dass "die saarländischen Ermittlungsbehörden" mit wesentlichen Beweismitteln verantwortungslos umgegangen seien "und sie nahezu vollständig vernichtet haben, bevor eine Einsichtnahme erfolgen konnte".

Brauer und Hromada weisen darauf hin, dass sie ihre Recherchen in Deutschland nun abgeschlossen hätten. Sie befragten mehr als 50 Zeitzeugen und betroffene Personen und werteten Akten des Bistums Triers und beteiligter Staatsanwaltschaften aus. Die UAK kündigte an, dass Brauer und Hromada sich bereit erklärt hätten, ihre Tätigkeit um ein weiteres Jahr zu verlängern. Es seien wichtige Fragen offengeblieben.

Bild: ©Harald Oppitz/KNA (Archivbild)

Der heutige Trierer Bischof Stephan Ackermann war bis 2022 auch Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz.

Dillinger, der die Hilfsorganisation CV-Afrika-Hilfe gegründet hatte, war auch in vielen afrikanischen Ländern unterwegs. "Mögliche Erkenntnisse aus noch laufenden Erkundigungen in afrikanischen Ländern sollen zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben werden", so die Studienautoren. Es sei enttäuschend, "dass verschiedene Stellen, so zum Beispiel das Auswärtige Amt, Bitten um Auskunft oder Unterstützung völlig ignoriert" hätten. Der "letzte uns bekannt gewordene Sachverhalt" trug sich laut den Sonderermittlern 2018 im Fuldaer Priesterseminar zu, wo Dillinger zu Gast war. Ein rumänischer Student schilderte demnach, dass der Geistliche versuchte habe, ihn zu küssen. Dillinger bestritt den Sachverhalt. "Die Angaben des Studenten sind glaubwürdig", betonen die Sonderermittler.

Bistum: Dillinger-Abschlussbericht bringt "größere Klarheit"

Nach Einschätzung des Bistums Trier bringt der vorläufige Abschlussbericht "größere Klarheit". Dies gelte vor allem für die Betroffenen, "aber auch für das Bistum in Bezug auf das Agieren und die Taten von Edmund Dillinger und die Fehler und Versäumnisse der Verantwortlichen des Bistums", erklärte die Diözese am Dienstag in Trier. "Die beiden Ermittler zeichnen das Bild eines Menschen, der über Jahrzehnte ein Doppelleben führte", so das Bistum. Einerseits habe er als Priester eine ausgesprochen enge Position der kirchlichen Lehre vertreten, andererseits aber genau das Gegenteil dessen gelebt, was er als moralisch und vorbildlich propagiert habe. Es werde offenkundig, "dass ein Priester der Trierer Kirche Kinder und Jugendliche missbraucht hat, und dass dies auch möglich war, weil Verantwortliche früherer Zeiten es unterlassen haben zu handeln oder unangemessen reagiert haben".

Erneut zeige sich ein Muster: "Dass vor allem in den Jahren vor dem Jahr 2000 viele von diesem Doppelleben wussten oder etwas ahnten, sich aber dafür entschieden, nichts zu unternehmen oder wegzuschauen", so die Diözese. In besonderer Weise treffe dies auf die im Bistum Trier Verantwortlichen in den 1960er- und 1970er-Jahren zu. "Das damalige Handeln entsprach in keinster Weise einer Betroffenenorientierung", rügte die Diözese.

Mit der UAK seien sich "die Bistumsverantwortlichen einig, dass Aktivitäten innerkirchlicher Gruppierungen beziehungsweise Bündnisse, die dazu beitragen, sexuellen Missbrauch zu verdecken oder dessen Aufdeckung zu behindern, aufgearbeitet und bekämpft werden müssen". Durch die Aufdeckung von Verbrechen des sexuellen Missbrauchs im Raum der Kirche und die Präventionsarbeit der vergangenen Jahre sei eine "Achtsamkeit auf allen Ebenen des Bistums und in allen Bereichen des kirchlichen Lebens" gewachsen, betonte das Bistum. Der heutige Trierer Bischof Ackermann war von 2010 bis 2022 Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). (tmg/KNA)

7.5., 15:30 Uhr: Ergänzt um Stellungnahme des Bistums Trier.