Sozialethische Zwischenrufe zur Bundestagswahl – Teil 6

Das Gesundheitswesen ist krank – das braucht es für seine Heilung

Veröffentlicht am 07.02.2025 um 00:01 Uhr – Von Christof Mandry – Lesedauer: 

Frankfurt am Main ‐ Personalmangel, Insolvenzen, drängende Finanzierungsfragen: Die deutsche Gesundheitsversorgung steckt in der Krise. Ein Gemeinwesen muss sich auch daran messen lassen, dass es die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zukunftsfähig und werteorientiert reformiert, mahnt Sozialethiker Christof Mandry.

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Wie eine Umfrage der OECD belegt, ist das Vertrauen ins deutsche Gesundheitswesen nach Covid-19 deutlich gesunken: Nur noch 54 Prozent der Befragten sind zuversichtlich, dass das öffentliche Gesundheitswesen gegen eine neuerliche schwere Gesundheitskrise gewappnet ist. Vertrauen in öffentliche Institutionen ist jedoch von grundlegender Bedeutung für die Zustimmung zur Demokratie und für das Funktionieren der sozialen Sicherung.

Viele Dinge bereiten Sorgen: Der eklatante und weiterhin ansteigende Personalmangel im Gesundheitswesen betrifft keineswegs nur Pflegekräfte, sondern angesichts der anstehenden Ruhestandswelle auch das ärztliche Personal. Selbst bei günstiger Berechnung erwartet das Statistische Bundesamt bis 2049 einen ungedeckten Bedarf an mindestens 280.000 Pflegekräften. Und trotz zuletzt steigender Ärzt*innenzahlen wird bis 2030 mit bis zu 50.000 unbesetzten Stellen gerechnet. Hinzu kommen die Insolvenzen bei Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern, die Ängste vor regionalen Versorgungskrisen wecken, wenn Plätze in Pflegeheimen und Krankenhäusern nur schwer und außerhalb von Ballungsgebieten noch schwerer zu finden sind. Schließlich besteht die Unsicherheit, ob das bisherige Kranken- und Pflegeversicherungssystem weiterhin auskömmlich finanzierbar bleibt – eine Frage, die übrigens an alle sozialen Sicherungssysteme zu richten ist, an deren Basis das demografische Ungleichgewicht nagt. Werden die Krankenkassenbeiträge und Pflegeeigenleistungen unaufhaltsam weiter steigen oder nur um den Preis von Leistungskürzungen auf dem heutigen Niveau gehalten werden können?

Es braucht werteortientierte und durchdachte Reformen

Klar ist: Die Gesundheitsversorgung in Deutschland muss nachhaltig gesichert werden. Dazu sind neue Ideen, sachorientierter politischer Streit und erhebliche Kompromissbereitschaft notwendig. Auch wenn das alles als sehr komplex erscheint: Ein verlässliches Gemeinwesen muss sich auch daran erkennen lassen, dass Reformen in der Gesundheitsversorgung werteorientiert und durchdacht angegangen und beharrlich verständlich gemacht werden.

„Ein verlässliches Gemeinwesen muss sich auch daran erkennen lassen, dass Reformen in der Gesundheitsversorgung werteorientiert und durchdacht angegangen und beharrlich verständlich gemacht werden.“

—  Zitat: Christof Mandry

Krankheit und Pflegebedürftigkeit betreffen Menschen in sehr direkter und persönlicher Weise und beeinträchtigen ihre Fähigkeiten, ein gelingendes Leben mit anderen und als integrierte Teile der Gesellschaft zu führen. Es bleibt daher auch in einer Gesellschaft, die wie die unsere sich ein Stück weit neu erfinden muss, um in einer in vieler Hinsicht erkennbar weniger verlässlichen europäischen und globalen Situation bestehen zu können, essentiell, ihre solidarischen Kräfte zu stärken, die Chancen einer subsidiär organisierten Gesellschaft zu nutzen und insgesamt die Würde aller Menschen konsequent in den Mittelpunkt zu stellen.

Für den Gesundheitsbereich bedeutet das, sich an Gesundheit als einem Primärgut zu orientieren, das jeder Mensch benötigt, um sich soweit wie möglich als Würdewesen in sozialer Verantwortung zu verwirklichen. Konkret drückt sich das etwa in folgenden Maximen aus: Der Fokus sollte auf möglichst gesunde Langlebigkeit der Bürger*innen gerichtet werden, indem der Schutz vor Gesundheitsbeeinträchtigungen und die Gesundheitsförderung in möglichst vielen Politikbereichen verfolgt werden und indem im Gesundheitswesen das Vermeiden von Krankheiten durch Prävention und durch Rehabilitation aufgewertet wird. Eine nachhaltige und verlässliche Finanzierung von Krankheitsversorgung und Pflege muss konsequenter als bisher angegangen werden. Nicht zuletzt muss auf solidarische Weise sichergestellt werden, dass die Gesundheitsbedarfe von keinem Menschen "durchs Raster fallen".

Solidarische Ressourcen müssen konsequent gestärkt werden

Der pflegerische und ärztliche Personalmangel kann nicht durch Drehen an einer einzigen Stellschraube gemildert werden. Der längere Verbleib im Beruf durch bessere Arbeitsbedingungen, die Entlastung bei Dokumentationsaufgaben durch digitale Dienste sowie das Anwerben und Halten von Fachpersonal aus dem Ausland sind wichtige Bausteine, von denen eine gewisse Entlastung erwartet werden darf. Notwendig wird aber auch sein, Krankheit und Pflegebedürftigkeit durch Prävention und Rehabilitation besser zu vermeiden sowie bisherige Fachdienste durch soziale Innovationen wie niedrigschwellige lokale Gesundheits- und Pflegenetzwerke, das Einbeziehen von Angehörigen und Nachbarschaften zu ergänzen. Technologische und soziale Innovation müssen dabei Hand in Hand gehen – auch hier müssen vorhandene solidarische Ressourcen konsequent gestärkt werden.

Bild: ©privat

Christof Mandry ist Professor für Moraltheologie und Sozialethik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Zur sozialen Innovation ist übrigens auch zu zählen, dass unsere Gesellschaft möglichst schnell lernt, mit Migrantinnen und Migranten erheblich besser umzugehen. Nicht nur, weil wir sie dringend brauchen – ohne sie würde das Gesundheitswesen bereits jetzt zusammenbrechen –, sondern vor allem, weil sie Menschen und Mitmenschen sind. Schließlich dürfen wir auch die internationale Solidarität nicht ausblenden: Anwerben von Fachpersonal bedeutet Abwerben – medizinisches und pflegerisches Personal fehlt in den Herkunftsländern, in denen sie ausgebildet wurden und wo sie teilweise nicht ersetzt werden können. Hier ist eine faire internationale Praxis gefordert statt des Wettkampfs nationaler Egoismen, wie ihn der neue Unilateralismus allenthalben propagiert.

Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens muss korrigiert werden

Erhebliche Korrekturen sind auch bei der Ökonomisierung des Gesundheitswesens notwendig. Das Einführen ökonomischer Steuerungsparameter hat nicht, wie erhofft, zu mehr Effizienz und Versorgungsqualität geführt. Bereits 2001 hat der Sachverständigenrat Gesundheit erhebliche Über-, Unter- und Fehlversorgung diagnostiziert. Die Einführung der DRG-Fallpauschalen hat daran nichts geändert, im Gegenteil haben Krankenhäuser ihre Finanzierungsprobleme durch Mengenausweitung, möglichst lukrative Behandlungen und geschickte Patient*innenselektion zu lösen versucht. Wirtschaftliche Gesichtspunkte wurden dem medizinisch Sinnvollen immer mehr übergeordnet. Das Ergebnis ist ernüchternd: Im internationalen Vergleich gehört das deutsche Gesundheitswesen zu den teuersten, liegt bei der Lebensdauer der Menschen und bei der Krankheitslast jedoch nur im Mittelfeld. Ein einfaches "Mehr Geld ins System!" kann daher nicht zielführend sein. Vielmehr gilt es, die grundlegenden Versorgungs- und Finanzierungsstrukturen zu reformieren und dabei die Ökonomisierung mit ihren Fehlanreizen zurückzufahren.

Die Reform der Krankenhausstruktur, die noch im vergangenen Jahr im Bundestag verabschiedet wurde, weist in die richtige Richtung: Die Kombination von Vorhalte- und Fallpauschalen mindert den wirtschaftlichen Druck, die Aufteilung von Krankenhäusern auf Versorgungsstufen soll die Qualität der medizinischen Versorgung verbessern. Eine bessere regionale Aufteilung und neue lokale Versorgungsformen, die auch unter pflegerischer Leitung stehen können, sollen einer besseren Verzahnung von ambulant und stationär dienen. Ob und wieweit diese Ziele erreicht werden, muss sich natürlich in den nächsten Jahren erst zeigen. Eine neue Bundesregierung muss jedenfalls konsequent und lernbereit an diesem Kurs festhalten, die strukturellen Probleme im Krankenhaussektor weiter zu bearbeiten.

„Im Gesundheitswesen stehen weiterhin große Aufgaben an, die politisch nur mit einem funktionierenden Wertekompass und mit Augenmaß zu bewältigten sind.“

—  Zitat: Christof Mandry

Dazu wird auch gehören, mit den Ländern über eine verlässlichere Finanzierung der Krankenhausinvestitionen zu reden, die Ländersache sind, aber über einen längeren Zeitraum deutlich zu gering ausgefallen sind. Die ersatzweise vorgenommene Querfinanzierung von Investitionen aus den Budgets der gesetzlichen Krankenversicherung belastet nicht nur die Beitragszahlenden, sondern ist auch ein Systemfehler: Die Ausstattung der Krankenhauslandschaft ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht allein vom Kollektiv der gesetzlich Versicherten zu tragen ist.

Solidarität, Mitmenschlichkeit, Sachverstand und Kompromissbereitschaft

Zum Schluss ist noch der Blick auf die am meisten Benachteiligten zu richten. Trotz Krankenversicherungspflicht hat Deutschland auch im internationalen Vergleich zu viele Menschen, die faktisch keinen Gesundheitsschutz haben – Selbstständige, die wegen Beitragsschulden den Versicherungsschutz verlieren, viele wohnungslose Menschen, sowie weitere Gruppen von Menschen aus EU- und Nicht-EU-Staaten, die sich teilweise in aufenthaltsrechtlicher Irregularität befinden. Eine Ursache des Problems ist übrigens das Dickicht an Leistungsregelungen für die Übernahme an Gesundheitskosten, in dem sich nur noch Fachleute zurechtfinden. Im Geist der Nächstenliebe übernehmen Ehrenamtliche und soziale Einrichtungen vielerorts die Beratung und Behandlung von Menschen ohne Krankenversicherung. Aber auch hier müssen die Ursachen angegangen werden, damit wirklich kein Mensch in Deutschland vom Primärgut Gesundheit ausgeschlossen wird.

Im Gesundheitswesen stehen weiterhin große Aufgaben an, die politisch nur mit einem funktionierenden Wertekompass und mit Augenmaß zu bewältigten sind. Solidarität, Mitmenschlichkeit, Sachverstand und Kompromissbereitschaft sind gefordert. Es wäre sehr zu wünschen, dass wir in den verbleibenden Wochen bis zur Wahl davon wieder mehr erleben.

Von Christof Mandry

Der Autor

Christof Mandry ist Professor für Moraltheologie und Sozialethik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dort leitet er auch die Forschungsstelle Sozialethik im Gesundheitswesen und den dualen Masterstudiengang Sozialethik im Gesundheitswesen.