Die Ukraine geht gegen ihre größte Kirche vor – jetzt auch im Ausland
In der Ukraine gibt es zwei orthodoxe Kirchen, die in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen und die sehr ähnliche Namen haben – die "Ukrainische Orthodoxe Kirche und die "Orthodoxe Kirche der Ukraine". Die "Ukrainische Orthodoxe Kirche" (im Weiteren UOK) war bis 2022 Teil der Russischen Orthodoxen Kirche und hat sich nach dem russischen Angriff von ihr losgesagt. Die "Orthodoxe Kirche der Ukraine" (OKU) wurde 2018 gegründet und erhielt Anfang 2019 vom Ehrenoberhaupt der Orthodoxie, dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, die völlige kirchliche Selbstständigkeit (Autokephalie) zuerkannt. Die beiden Kirchen erkennen einander nicht an; jede betrachtet sich selbst als die einzige legitime orthodoxe Kirche im Land.
Es ist schwer, etwas über die Zahlenverhältnisse zu sagen. Nach der offiziellen Statistik ist die UOK die größte Religionsgemeinschaft in der Ukraine: Sie hat die meisten Gemeinden, Priester sowie Mönche und Nonnen im Lande. Das besagen die Zahlen der staatlichen Religionsbehörde DESS, die sich auf den 1. Januar 2024 beziehen (neuere Zahlen sind noch nicht veröffentlicht). Umfragen, mit denen man versucht, die Zahl der Gläubigen zu ermitteln, sind sehr unzuverlässig und methodisch fragwürdig.
Die ukrainische Regierung verdächtigt die UOK, eine "russische" Kirche zu sein, was diese jedoch vehement bestreitet. Die Behörden unterstützen die OKU und diskriminieren die UOK in vielen gesellschaftlichen Bereichen. So dürfen etwa Militärseelsorger der UOK nicht an die Front, die Kirche soll gezwungen werden, ihren Namen zu ändern, viele Websites, die mit der UOK in Verbindung stehen, sind in der Ukraine nicht mehr zugänglich, und Priester und Bischöfe werden mit Gerichtsverfahren überzogen, wenn sie sich kritisch über die OKU äußern. Im Sommer letzten Jahres wurde ein Gesetz verabschiedet, das ein schrittweises Verbot der UOK ermöglichen soll. Der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen und zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben ihre Kritik an diesem Vorgehen ausgedrückt, ebenso Papst Franziskus und zwischenkirchliche Zusammenschlüsse wie etwa der Weltkirchenrat.

Thomas Bremer war von 1999 bis 2022 Professor für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.
Seit dem Jahreswechsel ist nun eine neue Stoßrichtung der ukrainischen Behörden zu beobachten – sie nehmen die Gemeinden der UOK im Ausland in den Blick: In einem Fernseh-Interview zu Weihnachten behauptete Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, dass die Pfarreien der UOK im Ausland von prorussischen Oligarchen finanziert würden. Priester der UOK (der Großerzbischof spricht von "Priestern der Moskauer Kirche aus der Ukraine") würden in "sozialen Zentren" Gemeinden mit dem Ziel gründen, unter den ukrainischen Flüchtlingen ein Protestpotenzial gegen die ukrainische staatliche Politik zu bilden. Das sei auch eine Herausforderung für die ukrainische Diplomatie. Als Beleg für seine Behauptungen nennt der Großerzbischof Berichte ukrainisch-katholischer Priester aus Deutschland.
Seither wird das Thema in den ukrainischen Medien immer stärker betont. Einer der bekanntesten Priester der OKU rief, ebenfalls in einem Fernseh-Interview, den Staatssicherheitsdienst dazu auf, sich dieser Frage anzunehmen. Anfang Februar kündigte der ukrainische Minister für Nationale Einheit, der auch für die Ukrainer im Ausland zuständig ist, in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, "Einheitszentren" für Auslandsukrainer zu eröffnen, um ihre Verbindung mit dem Mutterland zu stärken. Er nannte dabei ausdrücklich auch Religion als ein Thema und sprach von einem "Konsens", den man in der Ukraine in dieser Frage gefunden habe – damit meinte er wohl das Gesetz zum Verbot der UOK. Außerhalb des Landes allerdings, so behauptete er, gebe es "die ukrainische Kirche" nicht, und daher gingen die Ukrainer vor allem in russische Kirchen.
In Deutschland keine Gemeinden der OKU
Tatsache ist aber: Es gibt in Deutschland inzwischen mehr als 40 Gemeinden der UOK – diese zählt der Minister jedoch nicht als "ukrainisch", sondern als "russisch". Mit "ukrainischer Kirche" meint er offensichtlich nur die OKU, die hierzulande tatsächlich keine Gemeinden hat. Das hängt damit zusammen, dass das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel 2019, als es die OKU für autokephal (also völlig selbstständig) erklärte, das Jurisdiktionsgebiet der neuen Kirche auf das Territorium der Ukraine beschränkt hat. Daher darf die OKU im Ausland keine Gemeinden gründen. In Deutschland wirken einige wenige ukrainische Priester in der Zuständigkeit des Ökumenischen Patriarchats. Es kommt erschwerend dazu, dass die OKU schon im Heimatland einen enormen Priestermangel hat und kaum die Hälfte ihrer Gemeinden seelsorglich versorgen kann. Wenn es zu Übertritten von Gemeinden von der UOK zur OKU kommt, verbleiben die Priester in aller Regel bei der UOK.
Die UOK begann 2022, nachdem sie sich als von der Russischen Orthodoxen Kirche unabhängig erklärt hat, Auslandsgemeinden zu gründen. Inzwischen sind es knapp 100 in ganz Europa. Vorher war ihr das vom Moskauer Patriarchat nicht gestattet und ukrainische Gläubige besuchten zumeist die Gemeinden der russischen Kirche – nun können sie in ukrainische Gemeinden gehen. Sehr viele Flüchtlinge kommen aus dem Osten und Süden des Landes, wo die russischen Angriffe am stärksten sind. Dort gibt es nur relativ wenige Gläubige der OKU und der griechisch-katholischen Kirche, sodass die meisten hierher geflohenen Ukrainer, soweit sie orthodox sind, der UOK angehören. Tatsächlich sind die Gottesdienste der UOK-Gemeinden im Ausland gut besucht, trotz der zahlreichen Probleme, mit denen sie konfrontiert sind – etwa weite Anfahrtswege oder fehlende angemessene Räume. In manche Gemeinden kommen regelmäßig über Hundert Gläubige zum Gottesdienst, an Feiertagen viel mehr. Insofern hat es eine gewisse Logik, dass der ukrainische Staat in seinem Kampf gegen die UOK jetzt auch ihre Auslandsgemeinden ins Auge fasst.

Metropolit Swjatoslaw Schewtschuk ist Großerzbischof von Kiew.
Doch wie steht es um deren politische Haltung? Als Großerzbischof Schewtschuk seine Vorwürfe erhob, reagierten die Priester des westeuropäischen Vikariats der UOK mit einer Erklärung. Darin heißt es, dass Gläubige und Priester ukrainische Staatsbürger seien, die für die Ukraine beteten und die ukrainische Armee unterstützten. Der Vorwurf, sie bezögen russisches Geld, wird als Verleumdung zurückgewiesen und mit dem Hinweis beantwortet, dass die Finanzierung der Gemeinden durch die Gläubigen erfolge. Außerdem sei es häufig die russische Kirche selbst, die gegen die Gründung von UOK-Gemeinden im Ausland protestiere.
Tatsächlich wird in vielen Gemeinden Geld für die ukrainische Armee gesammelt, und in den Gottesdiensten wird ein eigenes "Gebet für die Ukraine" gesprochen, das in allen UOK-Gemeinden vorgeschrieben ist. Die Liturgien finden, wie in der UOK zumeist üblich, in kirchenslawischer Sprache statt; die Predigten sind auf Ukrainisch. Priester berichten, dass es häufig die Gläubigen sind, die die Liturgie in der ihnen gewohnten kirchenslawischen Sprache wollen – wenn Priester vorschlagen, den Gottesdienst doch auf Ukrainisch zu feiern, trifft das oft auf den Widerstand der Gemeinde. Der Vorwurf, der manchmal erhoben wird, dass in den Kirchen für Russland, den russischen Patriarchen Kirill oder gar den russischen Präsidenten gebetet werde, ist falsch und stammt zumeist von Menschen, die nie einen Gottesdienst der UOK besucht haben. Viele der Priester bemühen sich um ökumenische Zusammenarbeit, die sie in Deutschland kennengelernt haben – in der Ukraine selbst steht sie erst am Anfang. Die Priester werden dazu durch die Tatsache motiviert, dass die UOK-Gemeinden häufig in katholischen oder evangelischen Kirchengebäuden zu Gast sein können, was sie ausdrücklich mit Dankbarkeit vermerken.
Ukraine ignoriert UOK-Gemeinden im Ausland
Zugleich beklagen sich die Priester der UOK, die im Ausland tätig sind, dass ihr Angebot zur Zusammenarbeit mit den ukrainischen diplomatischen Vertretungen nicht erwidert wird. Die Websites der Konsulate erwecken den Eindruck, als gebe es in Deutschland keine UOK – lediglich die griechisch-katholischen Gemeinden und die zu Konstantinopel gehörenden Pfarreien (von denen es nur einige wenige gibt) werden genannt. Aktivitäten der UOK-Gemeinden wie Konzerte, Veranstaltungen, Ferienlager für Kinder, Besuche von Bischöfen etc. werden von den ukrainischen staatlichen Vertretern in Deutschland ignoriert, obgleich es sich bei der UOK um eine Religionsgemeinschaft handelt, die in der Ukraine legal und offiziell existiert.
All dies zeigt, dass die Maßnahmen gegen die UOK ebenso wie die öffentlichen Äußerungen von Vertretern der anderen ukrainischen Kirchen offensichtlich darauf zielen, die Kirche nicht nur in der Ukraine zu verbieten, sondern sie auch im Ausland zu schwächen und sie ökumenisch zu diskreditieren. Die Ukraine befindet sich durch den von Russland geführten Angriffskrieg in einer prekären Lage, die durch den Amtsantritt des amerikanischen Präsidenten und die Zögerlichkeit des deutschen Bundeskanzlers noch verschlimmert wird. In dieser Situation braucht das Land Zusammenhalt und keine weitere Spaltung. Die aktuellen staatlichen Maßnahmen gegen die UOK sind aber kaum dazu geeignet, diese Spaltung zu heilen. Sie sind nicht nur aus Gründen der Religionsfreiheit abzulehnen, sondern sie schaden auch der Ukraine selbst erheblich.