So kam neues Leben in eine verschlossene Dorfkapelle

Bei den vierzehn Nothelfern ist für jeden etwas dabei: der heilige Christophorus für die auf Reisen, die heilige Katharina für Näherinnen, aber auch gegen Kopf- und Zungenschmerzen. In der kleinen Kapelle in Eitelsbach bei Trier sind sie alle nebeneinander verewigt. Das Altarbild ist ein Geschenk des St.-Marien-Stifts in Pfalzel – aus dem Jahr 1768. "Das verrottet hier", sagt Michael Puch. Der 48-jährige Notfallmediziner steht an diesem heißen Tag in dem kleinen Gotteshaus, das ohne das Engagement der Eitelsbacher wohl fest verschlossen wäre – und trotzdem noch seine Macken hat.
Die Puchs wohnen direkt gegenüber der Kirche: Vom Küchenfenster aus können Michael, seine Frau Anna und die beiden Kinder genau sehen, wer im kleinen Gotteshaus ein und aus geht. Der Bau hat für den Ort eine besondere Bedeutung: Mitte des 19. Jahrhunderts haben ihn die Dorfbewohner selbst gebaut und immer in Schuss gehalten. Doch wie an so vielen anderen Orten in Deutschland wurde das kirchliche Leben nach und nach weniger. Vor ein paar Jahren war es nur noch ein Ruhestandgeistlicher, der regelmäßig die Messe las. "Da hatten sich die Dorfbewohner abgesprochen, dass ihn immer jemand vor der Messe im Altenheim abholt und danach wieder dorthin bringt", erzählt Puch. Doch der Priester wurde krank – und durfte auch nach seiner Gesundung nicht weiter machen. Denn sonst würden die Menschen in den anderen Dörfern der Pfarrei, wo es auch nur eine Kapelle gibt, neidisch werden. Der Streit eskalierte, in Eitelsbach brach das kirchliche Leben fast völlig zusammen. "Aus der Kapelle wurde ein toter verschlossener Raum mitten im Ort", erinnert sich Michael Puch. Die Dorfbewohner waren enttäuscht, viele wandten sich von der verfassten Kirche ab. Porzellan war zerschlagen.
Eine kleine Renaissance erlebte die Kapelle in der Corona-Zeit – denn da waren kleine wohnortnahe Orte für die persönliche Andacht auf einmal gefragt. Als die Beschränkungen aufgehoben wurden, setzte aber der Dornröschenschlaf wieder ein. Erst unter einem neuen Pfarrer gab es die Einladung an die Eitelsbacher, sich bei einem Brainstorming-Treffen über die Zukunft der Kapelle in der Großpfarrei Gedanken zu machen. Die Resonanz war übersichtlich. "Außer uns war keiner gekommen", erinnert sich Michael Puch. Aber die Puchs ließen sich darauf ein, die Initiative zu ergreifen. Unter einer Bedingung: "Wir machen das auf keinen Fall allein!" Sie warfen Zettel in die Briefkästen ihrer Nachbarn und luden sie ins heimische Wohnzimmer. Beim anberaumten Treffen standen sich die Eitelsbacher gegenseitig auf den Füßen, 21 Leute waren da, von insgesamt etwa 250 Bewohnern. Ideen gab es viele: Kultur, Gemeinschaft und ein bisschen Spiritualität waren die Stichworte. "Die meisten waren einfach neugierig und wollten, dass hier wieder was stattfindet", sagt Anna Puch. Denn Eitelsbach geht es wie vielen kleinen Orten in der Region: Es gibt zwei namhafte Weingüter mit besten Lagen, aber einen Bäcker oder einen Supermarkt gibt es nicht. Das hatte zur Folge, dass sich die meisten Dorfbewohner gegenseitig kaum noch kannten – oder seit Jahren zerstritten waren. Das war vor drei Jahren.
Schokoriegel und Pilgerstempel
Heute ist die Kapelle sichtlich aufgewertet worden: Hinter dem kleinen Eingangsportal gibt es eine Station mit Schokoriegeln, bald soll es auch Wasser geben – denn hier treffen zwei Pilgerwege aufeinander, der Hunsrücker Jakobsweg und der Martinusweg. Daneben gibt es einen Bücherstand mit Bibeln in verschiedenen Sprachen, Bonbons und einen Pilgerstempel. Daneben wird auch klar, wie das Dorf tickt: Die Beschriftungen sind alle in Regenbogenfarben und unter einem Fenster erklärt ein Plakat: "Die Menschenwürde ist der Glutkern des christlichen Menschenbildes und der Anker unserer Verfassungsordnung", der aus der Erklärung der deutschen Bischöfe zum völkischen Nationalismus stammt.
In der Eitelsbacher Kapelle ist schon alles für die Lesung aufgebaut.
Vorn in der Kapelle stehen um das Heiligenbild der vierzehn Nothelfer Heiligenfiguren in hohen Nischen, auch zwei historische Bleiglasfenster sind erhalten, weiter hinten hängen Reliquiare an der Wand, die früher auf dem damaligen Hochaltar standen. An den Wänden sind ein paar Risse erkennbar, auch auf der Empore neben der Orgel bröckelt der Putz. Neben dem Volksaltar vor dem Nothelfer-Bild stehen heute noch zwei zusätzliche Tische, denn heute Abend steht eine Lesung auf dem Programm. Michael Puch sieht gerade nach dem Rechten, ein Nachbar hat schon Wein angeliefert.
Etwa sechs bis sieben Termine im Jahr gibt es, für die die Nachbarschaft Werbung macht: Lesungen und Konzerte etwa. Dem gegenüber stehen ebenso viele Termine, die nur für die Eitelsbacher gedacht sind: Wenn Weihnachts- oder Maibäume aufgestellt werden oder an Karneval kleine Quarkbällchen, die sogenannten Mäuschen, zusammen gebacken werden. "Die Gemeinschaft steht für uns hier ganz vorn", sagt Anna Puch. Die Religionspädagogin wird heute Abend die Einleitung zur Lesung übernehmen. "Wir wussten früher nicht, wer alles hier wohnt, jetzt haben sich durch unsere Initiative viele neue Verbindungen ergeben." Das schwule Paar, das früher mit niemandem Kontakt hatte, führt jetzt einmal in der Woche den Hund eines etwas gebrechlichen Paares aus, Nachbarn verabreden sich zum Boulespiel. Wenn jemand krank ist, gehen Nachbarn einkaufen. Mit der Zeit fiel den Eitelsbachern auf, wie viele unterschiedliche Menschen es eigentlich im Dorf gibt. Daraus entstand gleich die nächste Idee: Bald soll es ein internationales Fest in Eitelsbach geben. Die Whatsapp-Gruppe der Initiative ist über die Jahre gewachsen, mittlerweile sind dort 45 Menschen Mitglied. Manche wollten mitmachen, andere in erster Linie über die nächsten Events auf dem Laufenden bleiben.
Michael und Anna Puch.
Der Teil des Programms, zu dem am wenigsten Leute kommen, sind bis heute die spirituellen Angebote. Das hat damit zu tun, dass auch auf dem Land der Kirchenbesuch nicht mehr selbstverständlich ist. Die Puchs beklagen sich aber auch über Hürden, die ihnen die Amtskirche in den Weg legt. Wegen der Strukturentwicklung im Bistum dürfen in Kapellen keine Sakramente mehr gespendet werden: Heiraten oder die eigenen Kinder taufen lassen kann man in der Eitelsbacher Kapelle also nicht. Auch eine eigene Homepage oder einen Instagram-Kanal darf es nicht geben. Zudem finden im Winter gar keine Gottesdienste statt, weil Kapellen im Bistum Trier nicht beheizt werden dürfen. Investiert wird in das Gebäude ebenfalls wenig: In der Sakristei ist eine Wand nach einem Wasserrohrbruch schwarz vor Schimmel, auch um manche Kunstwerke steht es nicht gut. Daneben merken die Eitelsbacher den Neid in manchen anderen Dörfern, denn es gibt immer wieder Beschwerden, etwa wegen einer Goldhochzeit mit einem externen Priester.
"Wir machen keine Strukturpläne für die Kirche"
Dementsprechend reserviert sind auch die Puchs. Man sei mit der Pfarrei in gutem Austausch – "aber in den Pfarrgemeinderat gehen wir nicht. Wir müssen auch noch unser Leben auf die Reihe bekommen", sagt Anna Puch. Deshalb ist die Nachbarschaft weiter eine Initiative, kein Verein – das Geld aus Spenden liegt im Pfarrbüro. "Wir engagieren uns mit der Nachbarschaft gern, wir machen aber keine Strukturpläne für die Kirche." Letztere sind eher der Grund für Sorgenfalten in Eitelsbach. Denn in einer Großpfarrei mit zehn Kirchen und acht Kapellen wird sicher irgendwann die Frage nach dem Baubestand gestellt. Hier hofft man: Wo etwas stattfindet, wird nicht geschlossen.
Es wird Abend über der Kapelle, die ersten Besucher der Lesung strömen hinein. Es werden am Ende um die 60 Leute sein. "Schön, dass man sich mal wieder sieht", ist auf dem kleinen Weg vor dem Eingangsportal zu hören. Ein Nachbar und ein Schauspieler spüren heute Abend der Geschichte der Kartäuser im Ort nach. Denn nur einen Steinwurf von der Kapelle steht der Karthäuserhof, in dem seit dem 14. Jahrhundert Wein hergestellt wird, erst von Mönchen, dann von Laien – und der für den Umtrunk nach der Lesung den Wein gesponsort hat.
Zur Lesung sind einige Eitelsbacher gekommen.
Die Lesung selbst ist eine Mischung aus persönlichen Familiengeschichten und Meditationen über das Schweigen, denn dafür sind die Kartäuser bekannt. Das Programm trifft auf ein sehr geteiltes Echo bei den Eitelsbachern. "Der geschichtliche Teil war interessant, wie die Menschen früher gelebt haben", meint etwa Gerda Schmitt. "Das Philosophische war mir aber zu viel und zu lang." Sie ist stolz auf das, was sich hier um die Kapelle entwickelt hat. "Das ist eine schöne Sache und wir haben einen tollen Zusammenhalt." Da stimmt ihr Andreas Sittmann zu: "Ich bin als Eitelsbacher stolz!"
Michael Puch schüttet einem Besucher das nächste Glas Wein ein. In der Spendenkiste neben ihm ist heute schon der ein oder andere Schein verschwunden – Geld, das in die nächsten Veranstaltungen fließt. Mittlerweile melden sich manche Künstler schon von sich aus in Eitelsbach, weil sie hier gern auftreten möchten. An Ideen für Veranstaltungen mangelt es also nicht. Doch jetzt steht Durchatmen im Vordergrund: Im Sonnenuntergang stehen die Eitelsbacher und ihre Besucher beieinander, stoßen an und erzählen. In den orangenen Sonnenstrahlen zeigt sich die Kapelle als der Mittelpunkt des Ortes, als der sie gebaut wurde. Heute ist sie es wieder – wenn auch auf andere Art.