Wenn ein Familienvater Priester wird: Ein Lebensweg mit vielen Kurven
Als Thomas Kuhn bei seinem Einzug in den Münsteraner Dom kurz den Blick über die Kirchenbänke schweifen lässt, muss er schlucken. In den ersten Reihen der Kathedrale sitzen enge Freunde und Bekannte. Auch seine Mutter ist zu dem Gottesdienst gekommen, in dem ihr Sohn zum Priester geweiht werden sollte. Und nicht nur sie sind bei diesem emotionalen Moment dabei: Auch seine drei Kinder begleiten den angehenden Priester.
Dass ein Priester mit eigenen Kindern in der katholischen Kirche etwas Besonderes ist, weiß auch Thomas Kuhn. Er habe einen nicht gerade gewöhnlichen Weg zum Priesteramt genommen, sagt der 54-Jährige. Und tatsächlich war dieser Weg alles andere als vorgezeichnet. Denn nach der Schule macht er zunächst eine Ausbildung zum Elektroinstallateur. "Handwerk hat goldenen Boden" – mit dieser Maxime ist Kuhn groß geworden. Viele Familienmitglieder waren Handwerker. "Da war es für mich ein normaler Weg, erstmal ins Handwerk zu gehen", sagt Kuhn heute.
"Da brennt auch mein Herz mit Leidenschaft"
Gleichzeitig engagiert er sich bei den Pfadfindern, übernimmt dort die Gruppenleitung. "Ich habe schnell entdeckt: Da brennt auch mein Herz mit Leidenschaft – vielleicht sogar ein Stückchen mehr als im Handwerk", erinnert sich Kuhn. Nach Ausbildung und den ersten Gesellenjahren war ihm klar: Diesen Weg will er weitergehen. Er möchte in den sozialen Bereich wechseln, dorthin "wo die Grenzen sind", sagt er. Er wird Erzieher. Eine erste Kurve in seinem Lebensweg.
Im Münsteraner St.-Paulus-Dom weiht der emeritierte Bischof Felix Genn Thomas Kuhn zum Priester. Bis zu diesem Moment hat der 54-Jährige bereits einen kurvenreichen Lebensweg hinter sich.
Als ausgelagerte Erziehungsstelle der Caritas nimmt Familie Kuhn in den nächsten 20 Jahren immer wieder Kinder mit besonderen Bedarfen bei sich auf, die sonst im Heim leben müssten. Über die Erstkommunion- und Firmkatechese ist Kuhn dann – so formuliert er es selbst – "immer tiefer in das Pfarreileben hineingerutscht". Irgendwann kommt die Pastoralreferentin, zu der der Familienvater einen guten Kontakt hat, auf ihn zu: "Überleg dir mal, ob du nicht Diakon werden möchtest." Eine Entscheidung, die die Familie gemeinsam trifft und trägt – "sonst säße ich heute nicht hier", sagt Kuhn. 2012 wird er schließlich zum Ständigen Diakon mit Zivilberuf geweiht.
Mit der Herausforderung, die noch vor der Familie liegen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt keiner rechnen. 2016 stirbt Kuhns Frau nach schwerer Krankheit. Die Gespräche in der Zeit vor ihrem Tod sind für die Familie existenziell mit "intensiven Augenblicken und intensiven Erlebnissen", beschreibt Kuhn – etwa die Planung der Beerdigung gemeinsam mit seiner schwerkranken Frau, aber auch gemeinsame Gebete. Der Glaube wird in dieser Zeit auf die Probe gestellt, auch Zweifel kommen auf oder die Frage: "Warum müssen wir diesen Weg gehen?" Und doch fühlt sich die Familie getragen. Die Gewissheit, dass das Leben nicht endet, sondern verwandelt wird, gibt der Familie Kraft in dieser schwierigen Zeit.
"Mein Gott, was hast du mit mir vor?"
Nach dem Sechswochenseelenamt braucht Thomas Kuhn eine Auszeit. Er sucht Ruhe und Zeit zum Nachdenken in einem Benediktinerkloster im österreichischen Salzburg. Ein Aufenthalt, der ihn für seinen neuen Alltag stärkt – und der etwas in ihm auslöst. In den kommenden Jahren fährt Kuhn regelmäßig ein- bis zweimal im Jahr nach Salzburg, um Exerzitien zu machen oder um einfach Abstand und Ruhe zu erfahren. In dieser Zeit bemerkt ein Geistlicher Begleiter, dass Kuhn zwischen all der Trauer und den Gedanken noch etwas auf der Seele brennt. Und auch der verwitwete Familienvater stellt sich zunehmend die Frage: "Mein Gott, was hast du mit mir vor? Soll ich diesen Weg weitergehen?"
Auch, als die Antwort für ihn selbst klarer wird, braucht Kuhn noch einige Monate, bevor er mit seiner Familie darüber spricht. Immer wieder fragt er sich, ob das wirklich die richtige Entscheidung ist, was sein Entschluss für die Familie bedeutet, was er aufgeben muss – und was er dafür zurückbekommt. Als das Gespräch schließlich stattfindet und Kuhn über seine Pläne spricht, sagt eine Tochter sofort: "Das habe ich mir gedacht. Ich bin gespannt, wie es weitergeht." Auch seine andere Tochter, sein Sohn und seine Mutter äußern ihren Zuspruch.
Die Eucharistie gemeinsam mit den Menschen zu feiern – das ist eines der Dinge, auf die sich Thomas Kuhn nun besonders freut. Bei seiner Priesterweihe konzelebrierte er mit Bischof emeritus Felix Genn und dem ebenfalls neugeweihten Priester Jonas Mieves.
2021 meldet Kuhn sich schließlich im Priesterseminar Borromaeum in Münster an. Für den damals 50-Jährigen eine neue Wendung und ein ganz neuer Abschnitt auf seinem Lebensweg. Viele der anderen Studierenden sind jünger als seine eigenen Kinder. "Das war natürlich eine Herausforderung – einmal für mich, mich mit den jungen Menschen neu auf den Weg zu begeben, aber auch für sie, sich mit mir auf den Weg zu machen", sagt Kuhn. Und er begibt sich auf den Weg, der ihn zur Priesterweihe in Münster führt.
"Die Bettseite neben mir bleibt auf ewig leer"
Nach seiner Weihe wirkt Kuhn nun vorerst als Kaplan in Lüdinghausen – und erlebt einige Umstellungen. "Früher habe ich auf 52 Quadratmetern mit sechs anderen Menschen gewohnt, heute lebe ich auf 70 Quadratmetern allein." Einsamkeit war gerade rund um den Tod seiner Frau ein Thema, sagt er heute. "Es ist schon schwierig, wenn man weiß: Die Bettseite neben mir bleibt auf ewig leer." Als Diakon war eine erneute Heirat für ihn damals bereits ausgeschlossen. Auch durch seine Zeit im Kloster habe er aber gelernt, mit diesen Zeiten des Alleinseins umgehen zu können. Zudem habe er seine Familie im Rücken und wolle versuchen, mit den Priestern in seinem Umfeld Gemeinschaft zu gestalten. Als 54-jähriger Familienvater bewundere er die jungen Männer, die ins Priesterseminar gehen und sich auf ein zölibatäres Leben vorbereiten.
Bis heute hat Kuhn seine Entscheidung jedenfalls nicht bereut, sagt er. Er freut sich darauf, Beichtgespräche zu führen, die Krankensalbung zu spenden und die Eucharistie mit den Menschen zu feiern. Er möchte die Botschaft Jesu zu den Menschen bringen, ihnen als Priester nahe sein und ein Stück ihres Weges mit ihnen gehen. Wie das – auch trotz mancher Kurven – geht, kann Thomas Kuhn aus eigener Erfahrung berichten.
