Marita Anna Wagner im Interview

Theologin: Aufarbeitung von Rassismus in Theologie und Kirche fehlt

Veröffentlicht am 16.08.2025 um 00:01 Uhr – Von Gabriele Höfling – Lesedauer: 

Bonn/Kapstadt ‐ Der Kolonialismus mag Geschichte sein, Rassismus aber lebt in Gesellschaft und Kirche fort – das zeigen die Forschungen von Marita Anna Wagner zu rassismuskritischen Theologien. Im Interview mit katholisch.de kritisiert sie auch den Begriff "Muttersprachliche Gemeinden".

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Westliche Gesellschaften sehen sich selbst oft als aufgeklärt und tolerant. Rassismus und Kolonialismus scheinen der Vergangenheit anzugehören – auch im Blick auf Kirche. Dass dem nicht so ist, darauf weisen rassismuskritische Theologien hin. Was darunter zu verstehen ist und wo in Kirche und Gesellschaft auch heute noch Rassismen weit verbreitet sind, erklärt die Theologin Marita Anna Wagner im Interview mit katholisch.de. Sie promoviert an der Paris Lodron Universität in Salzburg zu dekolonialen und rassismuskritischen Ansätzen in der theologischen Wissensproduktion. Derzeit forscht sie zu diesen Perspektiven an der University of Cape Town in Südafrika.

Frage: Frau Wagner, was ist rassismuskritische Theologie?

Wagner: Dazu ist zunächst zu klären, was Rassismus ist. Der Begriff bezeichnet nicht nur persönliches Fehlverhalten, sondern auch tief in unserer Gesellschaft verwurzelte Strukturen. Er teilt Menschen anhand äußerer Merkmale wie Hautfarbe oder Herkunft ein und weist ihnen einen ungleichen Wert zu. Diese Hierarchisierungsidee wurde während des Kolonialismus besonders ausdifferenziert und prägt uns seit über 500 Jahren. Leider ist sie nicht einfach verschwunden, weil der Kolonialismus formal beseitigt wurde. Besonders fatal: Neben bewusstem, offenem Rassismus gibt es auch unbewusste, subversive Formen: Menschen mit ausländischem Namen haben es oft schwerer bei der Wohnungssuche oder auf dem Arbeitsmarkt. Bei einer Bewerbung gelten Sprachkenntnisse in Englisch und Spanisch als sozial wertvoll, anders als Türkisch- oder Arabischkenntnisse, die oft als Hinweis auf eine schwere Integrierbarkeit gelesen werden. Es gibt klare Hierarchien, derer wir uns bewusst werden müssen. Nicht um einzelne als moralisch verwerflich anzuprangern, sondern um zu erkennen, dass wir in einem rassistischen Gesellschaftssystem leben, das uns von Geburt an prägt.

 Demonstration gegen die AfD
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Eine Kirche ohne Rassismus wünschen sich Demonstranten beim Katholikentag 2018 in Münster.

Frage: Und was ist rassismuskritische Theologie?

Wagner: Rassismuskritische Theologien hinterfragen theologische Lehren, kirchliche Strukturen und biblische Auslegungen im Hinblick auf rassistische Denk- und Machtmuster. Sie analysieren, wie Theologie historisch zur Legitimation von Rassismus beigetragen hat, und setzen sich für eine gerechte, inklusive Glaubenspraxis ein. Im Zentrum steht die Perspektive von Menschen, die Rassismuserfahrungen machen, und die Forderung nach einer Theologie, die sich aktiv gegen rassistische Strukturen positioniert. Denn noch heute dominiert die weiß-westliche Theologie, andere Theologien gelten meist als Ergänzung. Mir wurde erst während meines Studienaufenthalts in Pretoria bewusst, dass es neben der westlich geprägten Theologie andere Denkschulen gibt, etwa in Afrika oder Asien. Deswegen ist es auch so wichtig, von Theologien im Plural zu sprechen und eben nicht nur von der einen Theologie im Singular. Im Studium in Deutschland wurde diese Leerstelle oftmals nicht benannt. Stattdessen habe ich Vorlesungen über Kant und Hegel gehört, ohne einen Hinweis, dass beide auch Mitbegründer der Rassentheorie waren. So ist es kein Wunder, dass sich rassistisches Denken fortsetzt – auch bei den von kolonialem Rassismus Betroffenen. Ein Schwarzer Studienfreund in Pretoria bat mich einmal, in einem Gemeindekonflikt zu vermitteln, weil ich als weiße Person als theologische Autorität wahrgenommen würde. Das zeigt, wie tief solche Denkmuster nachwirken. Es braucht bewusste Anstrengung, um sie zu durchbrechen.

Frage: Wo gibt es noch Rassismen, etwa in Bibel und kirchlicher Kunst?

Wagner: Ein Beispiel sind die weißen Jesus-Darstellungen. Ich habe auch hier in Kapstadt trotz intensiver Suche noch keine Kirche mit einer Schwarzen Jesusdarstellung gefunden. Weiße Jesusfiguren sind überall auf der Welt dominant. Dabei war Jesus nicht weiß. Die Bibel diente im Kolonialismus zudem als Rechtfertigung, lokale Gesellschaften zu unterwerfen. Aus dem Buch Josua im Alten Testament etwa stammt die Geschichte von der Landnahme Kanaans. Das Volk Israel zieht in das verheißene Land ein. Europäische Siedler und Missionare sahen sich als dieses auserwählte Volk. Die vermeintlich rückständige und gottlose lokale Bevölkerung wurde entrechtet und enteignet. Das wirkt bis heute nach: 87 Prozent des Grundbesitzes in Südafrika sind in weißer Hand. Der neue Mythos von einem weißen Genozid in Südafrika ist also eine absolute Täter-Opfer-Umkehr.

Frage: Wie sieht ein Vergleich zwischen evangelischer und katholischer Kirche aus, wer ist bei der Entwicklung rassismuskritischer Theologien schon weiter?

Wagner: Rassismuskritische Stimmen sind bislang meist Einzelstimmen – eine systematische Aufarbeitung in Theologie und Kirche fehlt. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist bei der historischen Aufarbeitung einen Schritt weiter: Sie hat ihre Rolle beim Genozid an den Herero und Nama (1904–1908) anerkannt, um Vergebung gebeten und gemeinsame Gedenkorte initiiert. Eine vergleichbare Auseinandersetzung fehlt bislang auf katholischer Seite. In beiden Kirchen sehe ich zudem Nachholbedarf beim Rassismusbegriff: Er wird oft auf Rechtsextremismus reduziert, was viele Formen von Rassismus unsichtbar macht. Ein Beispiel ist die Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz von 2024 zum völkischen Nationalismus. Es braucht zudem mehr als moralische Appelle – wir müssen über echte strukturelle Veränderungen sprechen.

„Rassismuskritisches Denken darf kein Appendix zur westlichen Theologie sein. Es sollte eine transversale Querschnittsperspektive sein, die alle Bereiche der Theologie durchzieht.“

—  Zitat: Marita Anna Wagner

Frage: Wie bewerten Sie den deutschen Katholischen Preis gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, der seit 2015 alle zwei Jahre vergeben wird?

Wagner: Der Preis ist sicherlich gut gemeint. Doch es besteht das Risiko, dass damit das Engagement Einzelner gewürdigt wird, anstatt Rassismus als systemisch-strukturelle Herausforderung zu verstehen. Zudem wurden bisher vor allem weiße Personen ausgezeichnet. Solche Preise können auf diese Weise systemstabilisierend wirken. Wichtiger wäre, dass die Kirche ihre eigenen Leerstellen konsequenter benennt. Erste Ansätze gibt es schon: Hilfswerke fangen an zu hinterfragen, ob ihre Partnerschaftsarbeit wirklich auf Augenhöre stattfindet. Es gibt Fachtagungen zu dem Thema. Aber auch dort sehen wir meist weiße Teilnehmende, die über Rassismus sprechen, ohne Menschen, die Rassismus erleben, wirklich einzubeziehen.

Frage: Es gibt aber eine enge Zusammenarbeit und einen Austausch mit Partnern aus der Weltkirche….

Wagner: Der Begriff "Weltkirche" bedeutet "allumfassend", wird aber häufig als Abgrenzungsmerkmal verwendet. Wir verweisen damit auf den globalen Süden. Personen, die zu uns kommen, werden somit eher als Hilfspersonal gesehen statt als integraler Teil von Kirche. Ihnen wird mit einer wohlmeinenden Haltung christlicher Nächstenliebe begegnet, die abermals droht, paternalistisch zu werden. Auch da wirkt weißes koloniales Überlegenheitsdenken noch fort – weshalb es eine Förderung von diskriminierungssensiblen Workshops und Fortbildungen braucht. "Interkulturelle" Gottesdienste werden oft von weißen pastoralen Mitarbeitenden organisiert, die am Ende gar nicht daran teilnehmen. Auch der Ausdruck "Muttersprachliche Gemeinden" ist eine Fremdbezeichnung von außen, die nicht von diesen Gemeinschaften selbst kommt. Sie spiegelt ein strukturell asymmetrisches Verhältnis zur deutschen Ortskirche wider.

Frage: Sollte rassismuskritische Theologie eine eigene theologische Disziplin werden?

Wagner:  Rassismuskritische Theologien zu einer eigenen Disziplin zu machen, würde bedeuten, diese auszulagern – es bliebe eine Freiwilligkeit, sich mit ihnen zu befassen. Doch rassismuskritisches Denken darf kein Appendix zur westlichen Theologie sein. Es sollte eine transversale Querschnittsperspektive sein, die alle Bereiche der Theologie durchzieht – von der Bibelwissenschaft bis zur Systematischen Theologie. Denn eigentlich ist rassismuskritisches Engagement ja der Wesenskern unserer christlichen und theologischen Botschaft.

Von Gabriele Höfling

Hinweis

Im Verlauf des Interviews wird der Begriff "Schwarz" großgeschrieben, denn er soll in diesem Kontext hervorheben, dass er nicht auf die Hautfarbe abzielt, sondern eine politische Selbstidentifikation darstellt. Ebenso wird der Begriff "Schwarze Menschen" von Personen mit Wurzeln in afrikanischen, karibischen oder afro-amerikanischen Gemeinschaften als Selbstbezeichnung genutzt.