Zehn Jahre "Wir schaffen das": Hätte ein Paradigmenwechsel sein können

Wohl kaum ein Satz wurde in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland so kontrovers diskutiert wir dieser: "Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das", sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31. August 2015. Es war auf dem Höhepunkt des "Flüchtlingssommers", als Hunderttausende Menschen auf der Flucht vor Gewalt, Krieg und Armut vor allem aus Syrien oder Afghanistan nach Europa drängten, um Schutz zu suchen. Deutschland erklärte sich schließlich bereit, viele von ihnen aufzunehmen. Die Bilder aus den Bahnhöfen wie in München zeigten eine große Welle an Solidarität in der deutschen Gesellschaft. Auch kirchliche Organisationen beteiligten sich an der Willkommenskultur und engagierten sich von Beginn an für Flüchtlinge.
Zehn Jahre danach hat sich die Lage in Deutschland spürbar verändert. Auch unter dem Eindruck von Anschlägen und Attacken durch Migranten sank die Akzeptanz für die weitere Aufnahme von Flüchtlingen in vielen Teilen der Bevölkerung deutlich. Davon profitierte nicht zuletzt die AfD, die bei vergangenen Bundes- und Landtagswahlen immer stärker wurde. Viele Kommunen senden Hilferufe an Bund und Länder, weil sie sich in Sachen Unterbringung an der Belastungsgrenze sehen. Muss man also konstatieren, dass Deutschland es nicht geschafft hat? Und war Merkels Satz zwar gut gemeint, aber zu naiv oder gar fahrlässig?
"Ausdruck von Zuversicht und Mitmenschlichkeit"
Der Deutsche Caritasverband verteidigt ihn rückblickend. "Der Satz 'Wir schaffen das' war ein wichtiges Signal, Ausdruck von Zuversicht und Mitmenschlichkeit", sagt Oliver Müller, Vorstand für Internationales, Migration und Katastrophenhilfe. Zahlreiche Menschen hätten seither in Deutschland eine Heimat gefunden und arbeiteten in zentralen Bereichen der Gesellschaft, beispielsweise im Gesundheits- und Pflegesektor. "Ihre Erfolgsgeschichten zeigen, dass Integration vielfach gelingt."
Stefan Keßler, Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Deutschland, pflichtet bei. "Wir haben es geschafft, Menschen aufzunehmen, ihnen ein neues Leben in Sicherheit, Würde und Freiheit zu ermöglichen." Menschen hätten die Möglichkeit bekommen, zu arbeiten und sich einzubringen. "Diese Fortschritte sind nicht unbedingt ausreichend, daher setzen wir uns weiter für Verbesserungen ein."
Angela Merkels Satz "Wir schaffen das" war für Oliver Müller vom Deutschen Caritasverband "ein wichtiges Signal, Ausdruck von Zuversicht und Mitmenschlichkeit".
Die Kirche in Deutschland steht nach wie vor zu ihrem Engagement in der Flüchtlingshilfe. Viele Gläubige setzen sich weiter für die Belange Geflüchteter ein. Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Themen Migration und Flucht, sprach zuletzt von bundesweit rund 5.000 Hauptamtlichen und 35.000 Ehrenamtlichen. Sie unterstützen bei Sprachförderung, Behördengängen, Gesundheit, Berufseinstieg und Schule. Seit 2015 haben die deutschen Bistümer 1,2 Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe bereitgestellt – davon 40 Prozent in Deutschland, 60 Prozent international, vor allem in den Herkunftsländern.
Die Caritas bringe sich mit eigenen finanziellen Mitteln für die Integration von Geflüchteten ein – weit über das hinaus, was von staatlichen Stellen finanziell gefördert wird, betont Oliver Müller. Auch sie stützt sich auf die Hilfe Tausender Ehrenamtlicher. "Wir haben viele gute Instrumente – seien es Patenschaftsprogramme oder Beratungsangebote – und erleben als Caritas täglich, wie wichtig gute Begleitung und Sprachförderung sind", betont Müller.
Politik hätte Willkommenskultur unterstützen sollen
Es ist also einiges geschafft worden. Doch wenn die Bedingungen besser gewesen wären, hätte daraus noch mehr werden können, meint Stefan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst. "Der berühmte Satz von Bundeskanzlerin Merkel hätte für einen Paradigmenwechsel stehen können." Die anfängliche Willkommenskultur, die sich in zahlreichen Initiativen manifestierte, hätte von der Politik weiter vorangetrieben werden müssen. "Stattdessen ist genau das Gegenteil geschehen: Eine Flutwelle von Gesetzesverschärfungen überrollte bereits binnen weniger Monate das Land", kritisiert Keßler. "Die Lage der Schutzsuchenden wurde massiv verschlechtert und damit das große Engagement vieler Ehrenamtlicher ad absurdum geführt." Viele Helfer hätten daraufhin frustriert aufgegeben. Das liege auch an vielen bürokratischen Hürden.
Zudem, so Keßler, seien große Teile der Politik in den vergangenen zehn Jahren dabeigeblieben, auf die in der Gesellschaft vorhandene Angst und Ablehnung gegenüber Zuwandernden nicht mit sachlicher Information zu reagieren, sondern die Angst noch weiter zu schüren. "Das treibt die von verschiedenen Akteuren betriebene Spaltung innerhalb der Gesellschaft voran." Was ihm aktuell besonders aufstößt: Die Bundesregierung wolle auf der einen Seite illegale Migration bekämpfen, verschließe sich auf der anderen Seite jedoch systematisch jeder Möglichkeit der legalen Migration wie Familiennachzug oder Aufnahmeprogrammen.
Die anfängliche Willkommenskultur hätte von der Politik weiter vorangetrieben werden müssen, sagt Stefan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst. "Stattdessen ist genau das Gegenteil geschehen.“
Die Arbeit in der Flüchtlingshilfe brauche nicht nur eine verlässliche Finanzierung, sondern gerade politische Rückendeckung, unterstreicht Oliver Müller. "Wer sich haupt- und ehrenamtlich für ein gelingendes Zusammenleben einsetzt, verdient Respekt, nicht Anfeindung. Hier wünschen wir uns deutliche Worte und eine klare Haltung seitens der Politik." Doch statt zu fragen, was Integration befördert, gehe es momentan vor allem um Abschottung und Restriktionen. "Die Debatte um Flucht und Migration braucht Sachlichkeit, mehr Blick auf Lösungen und Mut."
Sorgen und Ängste in der Bevölkerung nehme man dabei ernst, betont Müller. Denn Deutschland stehe vor vielen Herausforderungen, die die Integration erschwerten. Als Beispiele nennt er Wohnraummangel, überlastete Sozialsysteme und die überlastete Infrastruktur. "Das sind Realitäten, für die wir als Gesellschaft Lösungen finden müssen. Wir machen aber auch immer wieder deutlich, dass die beschriebenen Herausforderungen nicht Folgen von Fluchtmigration sind."
Diskussion über Gestaltung der Integration
Um die vielfach aufgeheizte Debatte wieder etwas zu versachlichen, sollte man besser mit Flüchtlingen reden statt nur über sie, fordert Stefan Keßler. Erst ihre Anerkennung als gleichwertige Subjekte werde es ermöglichen, mit ihnen Lösungen für ihre Bedürfnisse zu entwickeln. "Dadurch kann es zu einer Diskursverschiebung kommen, weg von persönlichen Gefühlen der Zustimmung oder Ablehnung von Flucht und Migration und hin zu einer Diskussion über die Gestaltung der Integration."
Organisationen wie der Jesuiten-Flüchtlingsdienst und der Deutsche Caritasverband wollen weiter daran arbeiten, dass Fortschritte, die bei der Integration von Flüchtlingen in den vergangenen zehn Jahren gemacht wurden, ausgebaut werden. "Wir setzen uns dafür ein, dass die Geflüchteten, die zu uns kommen, von Anfang an die Möglichkeit haben, sich hier einzubringen und sich an einer Weiterentwicklung unsere Gesellschaft zu beteiligen", sagt Stefan Keßler. Erzbischof Heße drückte es kürzlich in Anlehnung an Merkels berühmten Satz so aus: "Wir haben sicher nicht alles geschafft. Aber wir haben viel geschafft, und das verdient Anerkennung."