Kann sich die katholische Kirche noch retten?

Zum Studientag der Deutschen Bischofskonferenz "Die Sendung der Kirche inmitten der säkularen Gesellschaft" wurden die Statements von Jan Loffeld, Thomas Schärtl-Trendel und Bischof Peter Kohlgraf veröffentlicht. Ich möchte allen drei ausdrücklich zustimmen und einen Punkt verschärfen.
Gerade Loffeld und Schärtl-Trendel hatten Beunruhigendes im Gepäck: Menschen heute brauchen den katholisch-kirchlichen Gott nicht wirklich (Loffeld) und Gott ist auch längst selbst mit Anrufen bei den anderen tätig geworden, aber es sind viel weniger diese anderen, die das vielleicht nicht hören, als vielmehr wir in der Kirche (Schärtl). Beides stimmt meines Erachtens und reicht auch noch um einiges weiter. Warum sollte sich ein zeitgenössischer Mensch mit der katholischen Kirche und deren Glauben abgeben, wenn ihr/ihm nach Gott ist?
Pierre Bourdieu hat in seinen feinen Unterschieden auf einen äußerst unangenehmen Punkt bei solch einer Frageweise hingewiesen. Wir reagieren untereinander nicht direkt aufeinander, sondern darüber, dass ich auf die anderen mit dem reagiere, wie ich mir vorstelle, dass diese auf mich reagieren. Bei diesem komplexeren sozialen Verhältnis geht es immer und unweigerlich darum, Distinktion zu gewinnen und zugleich Distinktion nicht zu verlieren. Dabei gibt es diesen stets offenen und sehr neuralgischen Punkt: Wann muss ich mich überhaupt darum kümmern, dass die anderen so auf mich reagieren, wie ich davon ausgehe, dass sie es tun? Das muss ich dann und werde ich auch nur dann, wenn ich dabei einen Vorteil an Distinktion erzielen kann. Ich werde es aber nicht tun – und darf es im sozialen Gefüge auch nicht –, wenn ich einen Nachteil davon hätte, also einen Distinktionsverlust erleide.
Herabschauen auf die Kirche
Wenn ich feststelle "Oh je, die reagieren offenbar furchtbar auf mich!", dann habe ich nicht einfach nur mit diesem Umstand ein Problem, sondern gehe zugleich unausweichlich davon aus, dass diese anderen mir überlegen sind. Wegen des "oh je!" würde ich gerne auf ihr Niveau kommen und ich muss Distinktionsverluste wirklich fürchten, wenn es dabei bleibt. Stelle ich jedoch fest, dass die anderen mir unterlegen sind, wäre es ja ein Distinktionsverlust, wenn mich das kümmern würde, was die anderen glauben von mir halten zu können, weil ich dann auf ihr Niveau herabstiege, das mir unterlegen ist.
Die katholische Kirche hat mittlerweile diese zweite Position und zugleich hat sie keine Chance mehr, für sich jene erste beschriebene Position zu besetzen. Es gibt für die allermeisten Menschen hierzulande – einschließlich immer größerer Gruppen ihrer eigenen Mitglieder – mehr als genug Gründe, auf sie herabzuschauen und es wegen des drohenden Distinktionsverlustes es auch dabei zu belassen. Ich würde also soziale Nachteile davon haben, würde ich mich ernsthaft mit dem befassen, was die Repräsentanten in der Kirche von dem glauben halten zu können, was ich lebe und was ich selbst glaube. Was immer diese Kirche von mir denkt und wie sie auf mich hin glaubt reagieren zu müssen – "so what!".
"Es gibt für die allermeisten Menschen hierzulande – einschließlich immer größerer Gruppen ihrer eigenen Mitglieder – mehr als genug Gründe, auf sie herabzuschauen und es wegen des drohenden Distinktionsverlustes es auch dabei zu belassen", schreibt Hans-Joachim Sander über die katholische Kirche. Sander ist pensionierter Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg.
Die Kirchlichen, mit deren Interessen und Überzeugungen sich auszugleichen einfach nicht lohnt – also überhaupt ihre Religionsgemeinschaft –, haben ein doppeltes Problem. Es gibt zum einen mehr als genug gute Gründe, die dafür sprechen, dass das sich nicht lohnt, und zugleich eine tiefe, aber eben vergebliche Sehnsucht bei den mit ihrem Glauben Verschmähten, wieder selbst auf das Niveau zu kommen, so dass die anderen keinen Distinktionsverlust mehr befürchten müssen, wenn sie sich mit Kirche befassen.
In der Darstellung der Botschaft Jesu gibt es für das Problem ein Narrativ und einen Lösungsvorschlag. Beide sind für die Kirche in ihrer derzeitigen, von Loffeld und Schärtl gut sezierten Lage ziemlich prekär. Beide stehen bei Lukas 18 und gehören zu seinem Sondergut. Da gehen ein Pharisäer und ein Zöllner zum Tempel hinauf. Der Pharisäer reagiert auf das, wie die anderen auf ihn reagieren müssen, weil er nun ist, wer er ist, wie etwa dieser Zöllner. Und dieser Pharisäer hat guten Grund Gott zu danken, "dass ich nicht bin … wie dieser Zöllner dort" (V. 11). Er ist schließlich der Gute, der sich ernsthaft um Gottes Gebote kümmert; der andere ist der Böse, der sich nicht darum schert. Das weiß er und das weiß auch der Zöllner. Würde der Pharisäer sich mit dem interessiert befassen, was dieser andere von ihm denkt, würde er Distinktion verlieren. Bei Gott dagegen erwartet er Distinktionsgewinn; daran glaubt er fest. Der Zöllner wiederum reagiert auch auf das, wie er annehmen muss, dass der Pharisäer auf ihn reagiert. Er bleibt "ganz hinten stehen" (V. 13), weil er nun wirklich nicht nach vorn gehört wie der Pharisäer.
"Gott, sei mir Sünder gnädig!"
Aber dann tut der Zöllner etwas Überraschendes: Er schlägt sich an die Brust: "Gott, sei mir Sünder gnädig!" (V. 13). Das Narrativ geht ja so aus, dass dieser eine, der sich selbst relativiert, weil er sich ob seiner Sünden nicht rechtfertigen kann, gerechtfertigt wird, der andere, der sich seiner überlegenen Position sicher war, dagegen nicht.
Beides trifft die katholische Kirche ins Mark. Sie begriff sich über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, wie der Pharisäer – und sehr viele tun es in ihr immer noch. Die anderen sollen gefälligst bei ihr die Sünden beichten, aber sie selbst war die wahre Religion und mittlerweile sogar ein Sakrament Gottes für die Welt, wenn nicht sogar das Sakrament. Dann wurde diese Kirche allerdings an langen Hammelbeinen mit dem erwischt, was sie in der unheiligen Trinität von Sex, Macht, Geld auf dem Kerbholz hat. Und das ist eine lange Liste, die ständig neue Einträge findet. Bewältigt ist sie längst nicht. Das wiederum ist ziemlich übel für sie, ihren Glauben, ihre religiösen Angebote, ihre Distinktionsbilanz. Denn, was immer die anderen tatsächlich sind, die sich nicht für sie und ihren Glauben interessieren, ob sie nun Pharisäer, arrogante Frei-, Anders- oder Nicht-Religiöse, Unglaubende, spirituell Desinteressierte, völlig säkularisierte Menschen oder auch enttäuschte ehemalige oder nur Schein-Katholiken sind usw. – für die Kirche ist nur eines wirklich wichtig: Dass niemand von denen auf ihr Niveau herabsteigen kann, ohne an Distinktion im sozialen Gefüge zu verlieren. Warum sollten diese Menschen es also machen? Das wiederum kann sie völlig unabhängig davon, wer die sind und warum sie es tun, nicht kalt lassen, weil es ihre tatsächlichen massiven Distinktionsverluste anzeigt. Sie muss wollen, dass sie diese Verluste loswird und wieder auf die Gewinner-Seite wechselt.
Für das Problem der Kirche gibt es im Lukas-Evangelium ein Narrativ und eine Lösung.
Dafür, sagt Lk 18, gibt eine Chance, aber es gibt auch nur diese einzige und es gibt sie nur so: Die katholische Kirche muss diese Schreckensbilanz ihrer Distinktionen annehmen und es hinnehmen, dass die anderen immer bessere Gründe haben, auf sie herabzuschauen, als sie an Möglichkeiten hat, auf deren Niveau wieder hinaufzukommen. Viele sehen die Kirche als massive sexuell und spirituell missbrauchende, machtgierige und geldfixierte "Täterorganisation" – und das nicht zu Unrecht. Da darf sie es den anderen nicht übelnehmen, dass die keine Distinktion verlieren wollen und sie deshalb übergehen. Würde sie ihnen das übelnehmen, kann sie bei Gottes bestem Willen nicht als gerechtfertigt von dannen gehen. Vielmehr muss sie sich selbst übelnehmen, dass jene anderen einfach stets Distinktion verlieren, würden sie sich auf ihr Niveau herabbegeben, weil sie ihnen moralisch, ethisch, in Sachen Wahrheit und Glaubwürdigkeit schlichtweg sozial begründet unterlegen ist. Die können um ihrer selbst willen nicht viel mit ihrem Glauben anfangen – und das muss man ihnen lassen.
Sieht sie das aber ein, dass sie mehr die Sünderin ist als all die anderen es ihrerseits sein mögen und dass es für diese Einschätzung mehr als genug böse Gründe gibt, dann hat sie eine Chance bei Gott. Nur über die vollständige Selbstrelativierung, also in ganzer Breite und in voller Tiefe, kann sie an Rechtfertigung durch ihn herankommen.
Ein schwerer Anfang eines Anfangs
Leistet sie diese Selbstrelativierung, geht es leider noch nicht automatisch wieder hinauf in der sozialen Distinktionsleiter. Denn ob sie dann vor den anderen besser da steht, wird nicht von Gott abhängen, der sie dann gerechtfertigt haben wird, sondern daran, ob die anderen ihr den göttlichen Stopp ihrer Distinktionsverluste wirklich abnehmen und als einen Distinktionsgewinn gewähren, woraus sich für sie dann auch selbst ein Distinktionsgewinn ergibt.
Die Kirche bleibt wie jener Sünder, der sich ganz hinten angestellt hat, also immer in der Ohnmacht der Sünderin. Aber das ist ihre einzige Chance in der misslichen Lage. Dann bekümmern sie ihre Mitglieder- und Glaubwürdigkeitsverluste nicht mehr bloß so wie bisher. Dann kann sie vielmehr begründet damit anfangen, sich darum zu kümmern, es zu ändern. Wie aller Anfang ist auch dieser Anfang eines Anfangs schwer. Aber er lohnt.