Passauer Missbrauchsstudie behandelt Rolle schweigender Mitwisser

Fast 700 Kinder und Jugendliche sind seit 1945 von Priestern des Bistums Passau sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt worden. Zu diesem Ergebnis kommt eine am Montag auf der Internetseite der Universität Passau veröffentlichte Studie, die ein Team der Hochschule unter Leitung des Historikers Marc von Knorring im Auftrag der Unabhängigen Aufarbeitungskommission erarbeitet hat. Ermittelt wurden 672 Betroffene. Allerdings dürfte von einer nicht näher quantifizierbaren Dunkelziffer auszugehen sein, heißt es im Fazit.
Laut von Knorring waren nicht nur die mindestens 154 Beschuldigten oder überführten Täter verantwortlich. Grund seien auch "Denk- und Handlungsweisen innerhalb des Systems Kirche" gewesen. Sie hätten in der Vergangenheit dazu geführt, dass insbesondere in den Reihen von Bischöfen und Generalvikaren in vielen Fällen der Schutz der Institution und Priesterschaft über das Wohl von Betroffenen gestellt worden sei. Seit 2010 habe das Bistum nach und nach vieles an Prävention und Aufarbeitung geleistet, halten die Wissenschaftler fest. Es dürfe aber kein Dauerzustand sein, dass eine signifikante Zahl von Betroffenen mit dem Auftreten der kirchlichen Ansprechpartner und mit den Hilfsangeboten unzufrieden sei. So sollte zu denken geben, dass viele von ihnen anscheinend oder ausdrücklich keinen Kontakt zur Kirche wollten, weil sie sich von ihr nicht Hilfe und Anerkennung erwarteten.
Vierte bayerische Diözese
Die Studie trägt den Titel "Sexueller Missbrauch und körperliche Gewalt. Übergriffe auf Minderjährige durch katholische Geistliche im Bistum Passau 1945 bis 2022". Rund 2.400 Priester-Personalakten wurden gesichtet sowie 25 Betroffene und knapp 35 weitere Zeitzeugen interviewt. Damit ist Passau die vierte bayerische Diözese nach München und Freising, Würzburg und Augsburg, die Zahlen offengelegt hat.
In ihren historischen Ausführungen widmet sich die Untersuchung auch der Rolle von schweigenden Mitwissern. Die mit dem englischen Begriff "Bystander" bezeichneten Personen werden neben den Tätern für das Leid an den Betroffenen mitverantwortlich gemacht. Trotz ihres Wissens hätten sie sich oft nicht aus der Deckung getraut, lieber geschwiegen und sich sogar mit Beschuldigten solidarisiert. Zu dieser Gruppe zählten der Untersuchung zufolge vor allem die Eltern, Gemeindemitglieder, Pfarrhaushälterinnen oder Politiker.
Der Passauer Bischof Stefan Oster sprach in einer Stellungnahme von einem starken Kapitel. "Durch Kulturen des Schweigens, durch die Überhöhung des Priesters und durch Missachtung des Leides von Betroffenen haben nachweislich mindestens 700 Menschen oft unsägliches Leid erlitten mit Folgen, die oft ein Leben lang anhalten." Nur voll Scham könne er einmal mehr bekennen, dass verantwortliche Personen bei diesem Thema in der Kirche massiv versagt hätten. Das Bistum habe sich zwar neu aufgestellt und die Prävention verstärkt, trotzdem sei man noch nicht am Ziel, räumte Oster ein. Der Bischof lud für Januar die Mitglieder der Unabhängigen Aufarbeitungskommission und des Betroffenenbeirats zum Gespräch ein, um Konsequenzen zu ziehen.
Gesellschaftliches Umfeld
Der Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, Guido Pollak, ging in seiner Reaktion ebenfalls auf die "Bystander" ein. So habe die Forschung ergeben, dass dazu über viele Jahre hinweg auch Richter, Staatsanwälte, medizinische Gutachter, Jugendämter, Schulämter und Schulleitungen zu rechnen gewesen seien. Erörtert werden muss nach Ansicht des Erziehungswissenschaftlers auch die Rolle des Bischofs. Die Vorgänger von Oster mögen über die psychologischen und soziologischen Gesetzmäßigkeiten weniger aufgeklärt gewesen sein als dieser mit seinem heutigen Erkenntnisstand über die Zusammenhänge von Macht und Gewalt. Für die Kommission stelle sich jedoch die Frage, "wie weit Bischof Stefan in seiner Verantwortung für die Menschen im Bistum kirchliche Machtausübung öffentlicher Transparenz und unabhängiger Kontrolle unterwirft". (KNA)
8.12., 12:13 Uhr: Ergänzt um weitere Details.