Chancen und Grenzen des Religionsunterrichts

"Rekrutierung von Gläubigen ist nicht das Ziel"

Veröffentlicht am 08.09.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Eine Schülerin steht im Religionsunterricht an der Tafel.
Bild: © KNA
Schule

Bonn ‐ Immer weniger Menschen im Gottesdienst, immer weniger Wissen um Glaubensthemen. Liegt im Religionsunterricht eine Chance, das zu ändern? Nein, sagt Religionspädagoge Rudolf Englert. Das sei nicht das Ziel.

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Frage: Herr Englert, interessieren sich Kinder und Jugendliche heute überhaupt noch für Themen wie Religion, Glaube, Kirche?

Englert: Generell ist das Interesse keinesfalls so viel geringer geworden, wie man in der Öffentlichkeit manchmal anzunehmen scheint. Nach aktuellen Umfragen bezeichnet sich etwa die Hälfte der Jugendlichen auf irgendeine Art und Weise als religiös. Die Religiosität, die wir da antreffen, hat sicherlich andere Züge als noch vor Generationen und ist daher von traditionell geprägten Kirchenmitgliedern nicht unbedingt immer als solche identifizierbar. Aber es gibt deutlich wahrnehmbare religiöse Suchbewegungen in der Jugend. Und diesen unterschiedlichen Richtungen gibt der Religionsunterricht Raum. Es gibt also nach wie vor einen starken Bedarf, sich über Fragen der Religion auszutauschen, zumal Religion heute auf eine viel intensivere Weise Gegenstand öffentlicher Debatten ist als etwa vor 20 Jahren. Das zeigt nicht zuletzt der wachsende Anteil an konfessionslosen, aber sehr interessierten Schülern im konfessionellen Religionsunterricht.

Frage: Häufig wird heute eine "Glaubensverdunstung" beklagt, viele Menschen kennen sich mit ihrem eigenen Glauben nicht mehr aus. Hat hier ein mangelhafter Religionsunterricht Mitschuld?

Englert: Dieser Vorwurf wird immer wieder gemacht. Aber wir müssen klar sehen: Es ist nicht in erster Linie Aufgabe des Religionsunterrichts, den Glauben weiterzugeben. Früher sollte er auch das leisten, aber dies steht seit Jahrzehnten nicht mehr im Zentrum der Aufgabenstellung. Heute geht es um eine offene Auseinandersetzung mit religiösen Fragen, aber nicht um eine "Übertragung" des kirchlichen Glaubens auf Jugendliche. Das kann und soll der schulische Religionsunterricht nicht leisten. Dafür gibt es andere religiöse Lernorte, und die müssen entsprechend entwickelt und ausgebaut werden.

Frage: Was soll der Religionsunterricht denn grundsätzlich leisten?

Englert: Im Wesentlichen soll er einen Beitrag zur religiösen Orientierungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen leisten. Ganz besonders soll er die religiöse Pluralitätsfähigkeit fördern. Das ist heute sehr wichtig, denn wir leben in einem Kontext religiöser Pluralität. Damit muss man umgehen lernen. Viele Menschen in unterschiedlichen Religionsgemeinschaften tun sich mit den Gegebenheiten religiöser Pluralität noch immer schwer. Deswegen hat der Religionsunterricht da eine wichtige Aufgabe.

Frage: Welche Inhalte sollten vorkommen?

Englert: Das ist heute nicht mehr so strikt vorgeschrieben. Es gibt Kernlehrpläne. Die umfassen natürlich Grundwissen über die Herkunftsreligion der Schüler, über die jüdisch-christliche Tradition in ihrer konfessionellen Ausprägung. Darüber hinaus geht es um lebensweltliche, ethische, existenzielle Fragen. Dabei ist zu prüfen, was der Beitrag religiöser Tradition zur Beantwortung dieser Fragen sein kann. Glück ist heute etwa ein wichtiges Thema im Religionsunterricht. Da lautet die Frage zum Beispiel: Gibt es eine Beziehung zwischen Glaube und Glück? Inwiefern ist der Glaube glücksrelevant? Zusätzlich setzt man sich natürlich auch mit den Glaubensvorstellungen anderer Religionsgemeinschaften auseinander. Interreligiöses Lernen ist auch im konfessionellen Religionsunterricht ein zunehmend wichtiges Inhaltsfeld.

Bild: ©Privat

Rudolf Englert ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Duisburg-Essen.

Frage: Kommen diese Inhalte tatsächlich immer vor, oder wie groß ist die Freiheit der Lehrer?

Englert: Grob geschätzt sind etwa 70 Prozent verbindlich vorgeschrieben und 30 Prozent frei gestaltbar. Aber das Verhältnis variiert natürlich auch von Schulform zu Schulform. Religionslehrer haben im Vergleich zu anderen Fachlehrern eine relativ große Freiheit, je nach Situation der Lerngruppe, je nach aktuellen Gesprächsanlässen auf Themen zuzugreifen, die so nicht im Kernlehrplan zu finden sind.

Frage: Manche Kritiker sehen den Religionsunterricht in Deutschland in einer Art "Krise". Ist das so?

Englert: In gewisser Weise steckt der Religionsunterricht seit 100 Jahren in einer "Krise". Aber das heißt erst einmal nichts anderes als: Er ist immer wieder neuen Herausforderungen ausgesetzt. Er ist stärker als andere Fächer immer wieder neu transformationsbedürftig. Nicht, weil er schlecht wäre, sondern weil sich von Generation zu Generation die Schülerschaft wandelt. Immer neue Fragen und Interessen stehen im Mittelpunkt und auch der Modus des Umgangs mit Fragen der Religion ändert sich. Aber das sind für Didaktiker oft auch produktive Herausforderungen, heute zum Beispiel die immer weiter abnehmende religiöse Sozialisation der Schüler.

Frage: Bereits 2010 gab es sogar inhaltliche Kritik von Papst Benedikt XVI. Demnach solle Religionsunterricht in Deutschland mehr zu einer Art "Katechese" werden. Ginge das?

Englert: Der Religionsunterricht würde sich aus meiner Sicht ins Abseits manövrieren, wenn er sich zu einer Form der Katechese zurückentwickeln würde. Wir beobachten leider öfter, dass römische Institutionen die Sondersituation des Religionsunterrichts in Deutschland nicht wirklich beachten. Unsere  Situation unterscheidet sich von vielen Ländern, in denen es einen öffentlichen Religionsunterricht in dieser Form nicht gibt. Diese Differenz wird nicht immer klar genug gesehen und dann werden Formen religiösen Lernens propagiert, die in anderen Ländern im Kontext von Katechese durchaus ihren Platz haben mögen, aber im öffentlichen Religionsunterricht Deutschlands verfehlt wären.

Fragen: Warum genau verfehlt? Die Kirche, die ja für die Lehrpläne inhaltlich Verantwortung trägt, hat doch ein Interesse, dass sich ihre Mitglieder mit den Glaubensinhalten wieder besser auskennen. Könnte man den Unterricht diesbezüglich nicht anpassen?

Englert: Noch einmal: In den Glauben der Kirche einzuüben, kann nicht das Ziel an einer Schule als öffentlicher Einrichtung sein. In einem solchen Fall würde auch ich zu denen zählen, die sagen:  Ein derartiger Religionsunterricht hat an öffentlichen Schulen nichts verloren; das sollen die Religionsgemeinschaften bitte an einem anderen Lernort selbst besorgen. In einem solchen Fall gäbe es auch Proteste vonseiten der Schüler, der Elternschaft, und der Unterricht würde zum gesellschaftlichen Zankapfel werden. Und dann wäre der konfessionelle Religionsunterricht, der jetzt noch möglich ist, ganz schnell an die Wand gefahren. Natürlich soll sich das Christentum im Religionsunterricht attraktiv darstellen und natürlich sollen sich auch Menschen für Kirche interessieren. Doch eine Rekrutierung von Kirchenmitgliedern kann nicht Aufgabe des Religionsunterrichts sein.

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Frage: Kirche darf also nur "unterschwellig" für sich werben?

Englert: Kirche ist gar nicht so ein großes Thema im Unterricht, wie man von außen denken könnte. Sie ist auch für die meisten Schüler von keinem großen Interesse. Viele von ihnen sind der Kirche heute weitgehend entfremdet. Was etwa von den Bischöfen zu dieser oder jener Frage verhandelt wird, interessiert sie gar nicht. Man muss sie auch nicht überzeugen, dass das wahnsinnig  bedeutsam wäre. Kircheninternes ist einfach weniger wichtig als grundsätzliche Fragen lebenspraktischer und religiöser Orientierung. In diese können dann ja durchaus kirchliche Positionen eingespielt werden. Aber die Übernahme dieser Positionen kann eben nicht das Ziel sein. Das Konzept muss "Korrelation" heißen: Es gilt, theologische Fragen und religiöse Traditionen in eine spannende, gewinnbringende Beziehung zu Themen zu setzen, die Jugendliche heute von sich aus interessieren.

Frage: Ist der Religionsunterricht allgemein beliebt unter Schülern?

Englert: An Grundschulen ist der Religionsunterricht nach den Umfragen, die uns vorliegen, ein beliebtes Fach. Kinder fragen sehr offen, und der Unterricht gibt diesen Fragen Raum. Im Bereich der Sekundarstufe I sieht das natürlich anders aus. Doch das gilt für viele Fächer. Welcher Schüler geht zwischen siebter und neunter Klasse schon gerne in die Schule? Da partizipiert der Religionsunterricht also an einer allgemeinen Schulmüdigkeit. Aber insgesamt sind die Abmeldequoten erstaunlich gering. Und diese sind ja ein sensibler Indikator dafür, welche Wertschätzung der Unterricht bei der Schülerschaft erfährt. Der Abmeldequotient lag über viele Jahre hinweg bei unter fünf Prozent, und das ist beeindruckend.

Frage: Die Würzburger Synode gilt als Wendepunkt für den Religionsunterricht – weg von einer reinen Glaubensunterweisung mit Katechismus. Was war damals der Auslöser?

Englert: Der Synodenbeschluss von 1974 ist ein Meilenstein in der Entwicklung des Religionsunterrichts. Bis heute ist er im Wesentlichen gültig. Er hat ein diakonisches Konzept von Religionsunterricht vorgelegt, bei dem sich dieser sich als Dienstleister an den Schülern versteht. Der Unterricht ist also schülerorientiert und wickelt nicht ein "kirchliches Programm" ab. Er fragt vielmehr: Was könnte und sollte die Schüler interessieren von dem, was wir als Kirche anzubieten haben? Und diese Wende zum Diakonischen war mit Blick auf die Zukunft notwendig. Wir hatten in den 1970er-Jahren noch weitgehend konfessionell homogene Lerngruppen. Das ist heute nicht mehr der Fall. In konfessionell gemischten Regionen ist es kaum mehr möglich, jahrgangsspezifische Lerngruppen rein konfessioneller Natur zu bilden. Wir müssen und werden also zunehmend Formen konfessioneller Kooperation einüben. Dies ist eine Entwicklung, die ich sehr begrüße.

Frage: Aber ist das der richtige Weg, wenn die Inhalte gewissermaßen nur noch "ökumenisch" sind und gar nichts Katholisches mehr übrig bleibt?

Englert: Ich glaube nicht, dass die Entwicklung in diese Richtung geht. Untersuchungen zeigen, dass das konfessionelle Bewusstsein durch eine konfessionelle Kooperation sogar steigt. Es kommt also keineswegs zu einer Art "Zwitterkonfession". Es geht in einem solchen Unterricht ja verstärkt um die Auseinandersetzung mit dem Anderssein des anderen. Dafür muss man es erst einmal kennenlernen. Religionsunterricht, der auf konfessionell-kooperativer Basis stattfindet, lässt die Schüler durch das Aufzeigen der Unterscheide ihre eigene Konfession besser verstehen.

Frage: Junge Muslime scheinen sich häufig besser mit ihrer Religion auszukennen als junge Christen. Ist islamischer Religionsunterricht also "besser" aufgestellt als der christliche?

Englert: Das ist eine schwierige Frage. Ihre Religion spielt für muslimische Jugendliche eine deutlich größere Rolle als im Durchschnitt für katholische und evangelische Jugendliche. Das hat aber nicht in erster Linie mit dem islamischen Religionsunterricht zu tun, den es ja noch gar nicht so häufig gibt. Vielmehr liegt bei Muslimen oft noch eine selbstverständlichere Verankerung in einer religiös-traditionell geprägten Lebenswelt vor. Der Religionsunterricht hat auf diese Verhältnisse wenig Einfluss. Wenn also die Kirchen wollen, dass junge Christen wieder stärker mit Glaube und Kirche vertraut werden, dann muss dafür künftig vor allem die Katechese – als ein Lernort der Kirche selbst – weiter entwickelt und ausgebaut werden.

Von Tobias Glenz

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