"Dieses ganze System ist eine Lüge"

Jesuit Müller über Kirchenasyl: Das sind keine Akten, sondern Menschen

Veröffentlicht am 23.07.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Seit Jahren sorgt das Kirchenasyl für Konflikte. Aktuell laufen drei Verfahren gegen Ordensmitglieder, die Kirchenasyl gewährt haben. Im katholisch.de-Interview erklärt der stellvertretende Vorsitzende von "Asyl in der Kirche", Jesuit Dieter Müller, die Hintergründe – und äußert seine Wünsche.

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Aktuell müssen sich drei Ordensleute vor Gericht verantworten, weil sie Kirchenasyl gewährt haben. Nach einem Freispruch des Benediktinermönchs Abraham Sauer aus Münsterschwarzach hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Die Oberzeller Franziskanerin Juliana Seelmann war in einem anderen Fall schuldig gesprochen worden. Hier legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Für Schlagzeilen hat auch der Fall der Äbtissin Mechthild Thürmer gesorgt. Ein Prozess wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt wurde jedoch kurzfristig abgesagt, weil in zwei weiteren Fällen Ermittlungsverfahren gegen die Ordensfrau eingeleitet wurden. Im katholisch.de-Interview erklärt der stellvertretende Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche", Jesuit Dieter Müller, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dafür sorgen könnte, viele Kirchenasyle überflüssig zu machen.

Frage: In den vergangenen Wochen und Monaten scheinen sich Gerichtsverfahren gegen Ordensmitglieder wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt zu häufen. Wie bewerten Sie das?

Müller: Es ist tatsächlich so, dass wir im Moment mit diesen drei Verfahren eine gewisse Häufung erleben. Auffällig ist, dass sich alles in einer bestimmten Region, nämlich Nordfranken, und im Raum der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg abspielt. Das könnte bedeuten, dass die Generalstaatsanwaltschaft das Thema Strafbarkeit von Kirchenasyl forcieren will. 2017 gab es hunderte von Ermittlungsverfahren in ganz Bayern gegen Kirchenasyl gewährende Personen und Geflüchtete – sogar ein bis zwei Jahre rückwirkend. Auch gegen mich wurden vier eingeleitet. Diese Verfahren wurden in den allermeisten Fällen aber wieder eingestellt. Die drei Generalstaatsanwaltschaften in Bayern, Bamberg, Nürnberg und München, haben damals bestätigt, dass es eine Absprache gibt: Beim ersten Fall von Kirchenasylgewährung wird das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt, im Wiederholungsfall gibt es nur noch eine Einstellung gegen Geldbuße und beim dritten Mal folgt dann ein Strafbefehl. Das wendet die Generalstaatsanwaltschaft in Bamberg nun wieder an und lässt es ein wenig eskalieren.

Kirchenasyl

Beim Kirchenasyl bringen Gemeinden oder Ordensgemeinschaften von Abschiebung oder Zurückweisung bedrohte Geflüchtete in kirchlichen Räumen unter und beherbergen sie dort. Mit der Aufnahme sogenannter "Dublin-Fälle" ins Kirchenasyl versuchen die Gemeinden und Orden, die Betroffenen vor der Abschiebung in andere EU-Länder und der Gewalt durch Sicherheitskräfte oder drohender Obdachlosigkeit und Zwangsprostitution dort zu bewahren oder sie vor der Gefahr  von Kettenabschiebungen in unsichere Herkunftsländer zu schützen. Dazu muss das Kirchenasyl gemeldet und es muss ein Dossier beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingereicht werden, in dem der jeweilige Härtefall geschildert wird. Wird dieser Antrag abgelehnt, müssen die Betroffenen eigentlich das Kirchenasyl verlassen. In den meisten Fällen verbleiben die Personen aber trotzdem im Kirchenasyl, bis die Überstellungsfrist abgelaufen und Deutschland damit offiziell für das Asylverfahren zuständig ist.

Frage: Auffällig ist auch, dass es sich in den drei Fällen um Ordensmitglieder handelt, die angeklagt wurden. Warum ist das so?

Müller: Dass es jetzt hintereinander drei Ordensmitglieder getroffen hat, ist wahrscheinlich reiner Zufall. Kürzlich hörte ich von einem weiteren Verfahren, diesmal gegen ein evangelisches Pfarrerehepaar in Bamberg.

Frage: Erwarten Sie, dass es im Rest von Deutschland ebenfalls zu einer Häufung von Kirchenasyl-Klagen kommen wird?

Müller: In anderen Bundesländern erwarte ich es definitiv nicht. Auch 2017, als wir diese Vielzahl an Ermittlungsverfahren in Bayern hatten, gab es in anderen Bundesländern kaum Verfahren. Die Frage ist aus meiner Sicht eher, ob die beiden anderen bayerischen Generalstaatsanwaltschaften auf die Bamberger Linie einschwenken oder ob sich Bamberg umgekehrt besinnt und sagt: Wir belassen es jetzt bei den drei Fällen, die wollen wir noch geklärt haben. Das ist aber ein Blick in die Glaskugel.

Frage: Im Prozess von Schwester Juliane Seelmann sagte der Würzburger Richter: "Wir leben in einer Demokratie, nicht in einem Gottesstaat." Wie bewerten Sie diese Aussage?

Müller: Das war eine ungute Formulierung von ihm. Mit Gottesstaat konnotiert jeder die Scharia und islamische Gesetzgebung und dass das gesamte Staats- und Rechtssystem auf die Religion hin ausgerichtet ist. Darum geht es beim Kirchenasyl ja aber nun wirklich nicht! Da sollte man die Kirche im Dorf lassen. Schwester Juliana hat sich ebenso wie Bruder Abraham auf ihre nach dem Grundgesetz geschützte Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen. Das hat der Würzburger Richter völlig ignoriert. Inhaltlich ist das zu akzeptieren, richterliche Unabhängigkeit gehört zu einem Rechtsstaat und kann durchaus zu unterschiedlichen Urteilen führen. Die polemische Formulierung "Gottesstaat" hätte sich der Richter aber sparen können.

Jesuit Dieter Müller
Bild: ©JRS/Martina Schneider

Dieter Müller ist Koordinator Bayern beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland. Der Ordensmann ist zudem stellvertretender Vorstandsvorsitzender der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche".

Frage: Sie suchen für Betroffene Kirchenasyl-Möglichkeiten. Bekommen Sie in Ihren Gesprächen mit, dass Gemeinden oder Gemeinschaften ablehnen, jemanden aufzunehmen, weil sie Sorge haben, dass sie sich vor Gericht behaupten müssen?

Müller: Nein, so eine Antwort habe ich noch nicht bekommen. Eher höre ich: Wir machen mal eine Pause, wir sind erschöpft. Das gibt es öfter, dass beispielsweise Gemeinschaften sagen: Jetzt ist gerade Sommerzeit und nur zwei Schwestern sind da, statt fünf. Dann können wir das nicht stemmen.

Aber es hat noch niemand gesagt: Ich traue mich gerade jetzt nicht, weil ich keinen Ärger möchte. Es gibt ja auch Freisprüche, wie der Fall von Bruder Abraham zeigt. Im Endeffekt muss man prüfen: Befindet sich die geflüchtete Person in einer wirklichen Notlage und bin ich mit meinem Gewissen im Reinen. Es ist eine Gewissensentscheidung und das ist der Unterschied zwischen Behörde und Betreuern: Wir kennen die Fälle aus einem anderen Blickwinkel. Für uns sind das keine Akten, sondern Menschen, die uns in persönlichen Gesprächen schildern, was in Kroatien, Griechenland oder Italien mit ihnen passiert ist.

Frage: Was muss sich denn aus Ihrer Sicht ändern?

Müller: In den allermeisten Fällen handelt es sich beim Kirchenasyl um sogenannte Dublin-Verfahren. Die Dublin-III-Verordnung von 2013 sieht vor, dass derjenige Mitgliedsstaat für den Asylantrag zuständig ist, in dem der Asylsuchende zuerst die Europäische Union betreten hat. Reist er in ein anderes Land, kann er in das Ersteinreiseland zurückgeschickt werden. Dieses ganze System ist eine Lüge. Die Verordnung setzt voraus, dass in allen Mitgliedsstaaten ähnliche Asyl-Bedingungen herrschen und überall ein faires Verfahren möglich ist und man dort einigermaßen leben kann. Das ist aber nicht der Fall. Die EU-Länder haben völlig unterschiedliche Anerkennungspraktiken und in einigen ist die soziale Versorgung mangelhaft. Wir können mit dem Kirchenasyl nicht die komplette Dublin-Verordnung umkrempeln, wir machen damit aber auch über den einzelnen Fall hinaus darauf aufmerksam, dass etwas nicht stimmt.

Frage: Und was würden Sie sich wünschen?

Müller: Wünschen würde ich mir, dass es ein System gibt, in dem Menschen die Möglichkeit haben, einen Mitgliedsstaat zu finden, der ihr Verfahren und ihr Anliegen fair vertritt. Wenn es aber so weitergeht wie bisher, dann muss es doch wenigstens in unserem Land möglich sein, dass die eingereichten Härtefall-Dossiers großzügiger geprüft werden. Die Anerkennung dieser Dossiers liegt aktuell bei drei oder vier Prozent. Was soll man denn machen, wenn wir Härten erkennen, und das BAMF wischt die regelmäßig vom Tisch? Es geht beim Kirchenasyl nicht um tausende Fälle, sondern ein paar hundert im Jahr. Wenn das BAMF großzügiger den Selbsteintritt anwenden und die Asylverfahren übernehmen würde, würden viele Kirchenasyle überflüssig werden. Wir versuchen, die "grausame Asyllotterie", wie die frühere EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström die Dublin-Verordnung bezeichnet hat, in einigen Fällen etwas abzufedern, und man möge doch bitte die Flüchtlinge und die Kirchenasyl gebenden Personen nicht auch noch mit Strafverfahren behelligen. Es geht hier wirklich um sorgfältig geprüfte Härtefälle.

Von Christoph Brüwer