Nationaler kanonischer Gerichtshof soll für neutrale und professionelle Verfahren sorgen

Frankreichs neues kirchliches Strafgericht – Vorbild für Deutschland?

Veröffentlicht am 14.12.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Fribourg/Paris ‐ Am 1. Januar nimmt ein neues kirchliches Gericht seine Arbeit auf: Die französischen Bischöfe haben ihre Strafjustiz zentralisiert. Im katholisch.de-Interview erläutert die Kanonistin Astrid Kaptijn, was das bringt – und wie die Kirche Frankreichs die deutschen Bischöfe überholen konnte.

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Die Kirche hat ein eigenes Strafrecht – nicht, um das weltliche Recht zu ersetzen, sondern um besondere kirchliche Straftaten zu ahnden und kirchliche Strafen zu verhängen. In der Regel ist der Ortsbischof mit seinem bischöflichen Gericht für Strafverfahren zuständig – doch in den Diözesangerichten fehlt es oft an der Erfahrung, das Strafrecht anzuwenden. In Frankreich haben die Bischöfe daher im vergangenen Jahr entschieden, einen nationalen kanonischen Strafgerichtshof einzurichten – auch von der unabhängigen Missbrauchskommission CIASE gab es dafür Rückenwind. In Rekordzeit konnten die Bischöfe Vollzug melden: Zum 1. Januar nimmt der Strafgerichtshof seine Arbeit auf. Im Interview erläutert die Kanonistin Astrid Kaptijn, die an der Universität Fribourg Kirchenrecht lehrt und selbst Mitglied der CIASE war, die Hintergründe.

Frage: Frau Professorin Kaptijn, die Kirche in Frankreich hat einen nationalen kanonischen Strafgerichtshof eingerichtet. Was ändert sich dadurch?

Astrid Kaptijn: Die Zentralisierung soll die kirchlichen Strafverfahren professioneller und neutraler machen. Zuvor waren die Ortsbischöfe und die diözesanen Gerichte zuständig. Auf Diözesanebene sind die Kompetenzen im Bereich des Strafrechts nicht immer an den Gerichten vorhanden. In den Bistümern kennt man sich zudem in der Regel – und dann muss der Offizial oder ein Richter möglicherweise über Priester urteilen, mit denen er befreundet ist oder die er schon aus dem Seminar kennt.

Portraitfoto von Astrid Kaptijn
Bild: ©privat (Archivbild)

Astrid Kaptijn ist seit 2010 Professorin für Kanonisches Recht an der Universität Fribourg (Schweiz). Zuvor lehrte sie 13 Jahre lang am Institut Catholique de Paris. Sie gehörte der von der französischen Bischofskommission ernannten unabhängigen Missbrauchskommission CIASE an, die 2019 eingesetzt wurde und 2021 ihren Untersuchungsbericht vorlegte. 2019 berief Papst Franziskus sie als Konsultorin der Kongregation für die orientalischen Kirchen.

Frage: Was auch mit der neuen Strafgerichtsordnung auf diözesaner Ebene bleibt, ist die Zuständigkeit des Bischofs für die Voruntersuchung, also die Untersuchung, nach der erst entschieden wird, ob überhaupt ein Strafverfahren eröffnet wird. Das gibt dem Ortsbischof dann doch wieder eine wichtige Rolle. Hätte man diese Aufgabe nicht auch besser einer Art nationaler kirchlicher Staatsanwaltschaft übertragen?

Kaptijn: Papst Franziskus legt großen Wert darauf, dass die Bischöfe ihr Richteramt ernst nehmen und auch tatsächlich ausüben. Man kann also nicht alle Zuständigkeiten vom Bischof wegnehmen. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass bei der Voruntersuchung die Nähe und die Vertrautheit mit den Umständen als Vorteil gesehen wird. Bei der Voruntersuchung wird ohnehin noch kein Urteil gefällt, es geht nur darum, festzustellen, ob überhaupt ein hinreichender Tatverdacht besteht, um ein Verfahren zu eröffnen.

Frage: Gegen den Willen des Bischofs kann man also kein Strafverfahren führen?

Kaptijn: So ist es vor allem für die Verfahren, die nicht dem Glaubensdikasterium vorbehalten sind. Aber in der Gerichtsordnung ist auch festgelegt, dass der Bischof die Ergebnisse an den Promotor iustitiae, das ist vergleichbar mit einem Staatsanwalt, weiterleitet. Dieser gibt dann eine schriftliche Stellungnahme ab, ob er es für sinnvoll hält, das Verfahren einzuleiten oder nicht. Der Bischof kann sich zwar über diese Empfehlung hinwegsetzen, es ist aber festgelegt, dass er das nicht ohne einen gewichtigen Grund tun darf. Das gab es vorher nicht, und das stellt schon eine gewisse Verbesserung dar.

Frage: Und wenn der Bischof einen gewichtigen Grund ins Feld führt, auf ein Verfahren zu verzichten – könnte beispielsweise ein Geschädigter diese Entscheidung gerichtlich überprüfen lassen?

Kaptijn: Das ist nicht explizit in den Normen geregelt, aber das dürfte beim zuständigen Dikasterium möglich sein.

Frage: Die meisten kirchlichen Gerichtssachen sind Ehenichtigkeitsverfahren. Aber weiß man auch, wie viele Strafsachen überhaupt vor kirchlichen Gerichten verhandelt werden?

Kaptijn: Nein, und es ist wahrscheinlich je nach Diözese auch sehr unterschiedlich. Dazu kommt, dass vieles auch im Verwaltungsverfahren entschieden wird, also ohne Gerichtsverhandlung, und dort hat man noch weniger Einblicke. Man sollte auch nicht nur an Sexualdelikte denken. Auch im wirtschaftlichen Bereich ist Strafrecht sehr relevant – möglicherweise wird das neue Gericht mehr mit solchen Delikten zu tun haben als mit Sexualdelikten.

Blick in den Codex Iuris Canonici in Buch VI zum kirchlichen Strafrecht
Bild: ©katholisch.de/fxn (Archivbild)

Das kirchliche Gesetzbuch Codex Iuris Canonici widmet sich in seinem Buch VI dem kirchlichen Strafrecht. 2021 hat Papst Franziskus nach jahrelangen Vorarbeiten das gesamte kirchliche Strafrecht reformiert. Dabei wurden auch im Bereich der Wirtschaftsdelikte umfassende Änderungen vorgenommen.

Frage: Zumal einige besonders schwere Delikte in Rom durch das Glaubensdikasterium verhandelt werden – dazu gehören Sexualdelikte mit minderjährigen Geschädigten. Was kann ein nationales Kirchengericht dann noch dazu beitragen, sexuellen Missbrauch in der Kirche aufzuarbeiten und zu ahnden?

Kaptijn: Es bleibt in der Tat auch mit dem neuen Gerichtshof so, dass dem Glaubensdikasterium die Entscheidung über bestimmte Delikte vorbehalten sind. Neben den genannten Sexualdelikten, die Kleriker begangen haben, sind das beispielsweise auch bestimmte Straftaten gegen die Sakramente. Es ist aber zulässig und kommt schon jetzt häufig vor, dass das Dikasterium die Fälle einem diözesanen Gericht zuweist – und künftig auch dem nationalen kirchlichen Strafgerichtshof. Es ist durchaus eine denkbare Entwicklung, dass mit einer speziellen Gerichtsbarkeit auch mehr Fälle zu den Experten dort verwiesen werden.

Außerdem ist es so, dass diese Sexualdelikte die Nicht-Kleriker mit Minderjährigen begangen haben, nicht dem Glaubensdikasterium vorbehalten sind und tatsächlich von diesem nationalen Kirchengericht geurteilt werden können.

Frage: Ein nationaler Strafgerichtshof ist in der Kirche die Ausnahme. In Ihrer Heimat, den Niederlanden, gibt es schon lange ein interdiözesanes kirchliches Strafgericht in Utrecht. Welche Erfahrungen gibt es dort damit?

Kaptijn: Das weiß ich nicht. Außer den Beteiligten weiß das auch niemand, glaube ich. Ich selbst habe versucht, mich danach zu erkundigen, ich weiß auch von anderen, die das versucht haben – aber niemand bekommt Auskünfte. Ich vermute, dass es aufgrund der Größe des Landes noch weniger Fälle als in Frankreich gibt, aber man weiß schlicht nichts.

Frage: Intransparenz ist systematisch für kirchliche Gerichte. Warum tut sich die Kirche so schwer mit Transparenz in der Justiz?

Kaptijn: Im Hinterkopf ist sicher der Gedanke, dass man die Fälle lieber diskret behandelt, damit unter den Gläubigen kein Skandal entsteht. Das halte ich aber für keine gute Strategie, das haben wir ja gerade in Frankreich gesehen im Fall von Bischof Michel Santier. Auch dort hat man in den vergangenen Jahren versucht, Taten und Sanktionen zu verschweigen – aber am Ende ist es doch herausgekommen, und der Skandal war umso größer. Wahrscheinlich spielt auch immer noch der Gedanke eine Rolle, dass sich Kleriker gegenseitig schützen und man Dinge lieber unter sich regelt. Das schlägt sich in fragwürdigen Verfahrensregeln nieder: Ich habe grosse Mühe zu verstehen, warum bei Verfahren, in denen der gute Ruf eines Klerikers auf dem Spiel steht, der Gerichtsnotar ein Kleriker sein muss – als ob nicht auch Laien ans Amtsgeheimnis gebunden wären!

Frage: Die weltliche Rechtswissenschaft und Rechtspflege kann auf veröffentlichte Urteile zurückgreifen. Was für Auswirkungen hat die mangelnde Transparenz von kirchlichen Verfahren für Kanonistik und kirchliche Rechtspflege? Wie können Sie als Kirchenrechtlerin überhaupt die Rechtsanwendung erforschen?

Kaptijn: Das ist ein großes Problem, und darüber haben sich schon viele beschwert – ohne Erfolg. Urteile des höchsten kirchlichen Gerichts, der Apostolischen Signatur, oder auch des Glaubensdikasteriums kennt man schlicht nicht. Wenn man das in Rom vorbringt, heißt es, dass ja ausgewählte Urteile in Fachzeitschriften veröffentlicht werden – aber eben nur ausgewählte und sehr wenige. Dann heißt es auch, dass die Anonymisierung zu aufwendig wäre. Aber das schaffen weltliche Gerichte ja auch. Mich überzeugen diese Begründungen nicht wirklich. Die mangelnde Transparenz führt dazu, dass die Kirchenrechtler zum Beispiel nicht wissen, welche Umstände als mildernde oder dagegen als erschwerende betrachtet werden sollten bei der Zurechenbarkeit von Delikten.

Drei Ausgaben des Codex Iuris Canonici zeigen die Verwendung des Verstoßes gegen das sechste Verbot
Bild: ©katholisch.de/fxn (Archivbild)

Drei Ausgaben des Codex Iuris Canonici zeigen die Verwendung des Begriffs eines "Verstoßes gegen das sechste Verbot" in den Fassungen von 1917, 1983 und nach der jüngsten Reform 2021. Dass Sexualdelikte immer noch so definiert werden, anstatt zu differenzieren und Tatbestandsmerkmale zu beschreiben, stößt seit Jahren auf Kritik aus der Kirchenrechtswissenschaft.

Frage: Sie haben selbst in der CIASE mitgearbeitet, der französischen unabhängigen Kommission zur Untersuchung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche. Die CIASE hat eine Reihe von Vorschlägen mit Blick auf kirchliches Strafrecht und kirchliche Justiz gemacht. Dazu gehören Änderungen im kirchlichen Strafrecht, eine Angleichung von Transparenz und Prozessrecht der kirchlichen Justiz an die Standards weltlicher Gerichte und schließlich die Einrichtung des nationalen Strafgerichts. Wie bewerten Sie die Umsetzung der Empfehlungen durch die Kirche?

Kaptijn: Das meiste davon ist noch in Vorbereitung. Ich befürchte, dass einige Empfehlungen schwierig umzusetzen sind, vor allem solche, die sich auf Reformen im kirchlichen Strafrecht beziehen – Papst Franziskus hat ja gerade das komplette Strafrecht reformiert, da kann man wohl nicht damit rechnen, dass das schon wieder geändert wird. Dass der Strafgerichtshof eingerichtet wurde, ist auf jeden Fall ein wichtiger Schritt.

Frage: Ist das neue kirchliche Strafrecht denn grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung?

Kaptijn: Grundsätzlich schon. Im Bereich des sexuellen Missbrauchs gibt es durchaus einige Änderungen, die zu mehr Klarheit führen. Es ist gut, dass nun auch Menschen mit eingeschränktem Vernunftgebrauch besonders geschützt werden, und dass neben Klerikern und Ordensleuten auch Laien als mögliche Täter im Blick sind. Aber leider wird immer noch von Verstößen gegen das sechste Gebot gesprochen. Diesen unklaren Begriff haben im Vorfeld viele kritisiert, auch wir in der CIASE, weil er so undifferenziert ist und im Grunde alles beinhalten kann, von einer sexuellen Belästigung bis zur Vergewaltigung. Hier wären eindeutigere Tatbestände sinnvoll, wie es sie in staatlichen Rechtsordnungen gibt.

Frage: In Deutschland ist mindestens seit 2018 eine nationale kirchliche Strafgerichtsbarkeit in Planung, bislang ohne Erfolg. In Frankreich hat man es in weniger als zwei Jahren geschafft, das neue Gericht einzurichten. Was haben die französischen Bischöfe richtig gemacht? Was kann man von ihnen lernen?

Kaptijn: Mit der deutschen Situation bin ich nicht vertraut, daher kann ich dazu nichts sagen. Für Frankreich kann ich sagen, dass das Projekt für die Bischöfe sehr wichtig war und dass es in Zusammenhang mit der Arbeit der CIASE auch einen gesellschaftlichen Druck gab. Die große Mehrheit der Bischöfe steht hinter dem nationalen Strafgerichtshof und hat mit Nachdruck daran gearbeitet. Mehrere Bischöfe, darunter der Vorsitzende der Bischofskonferenz und der Vorsitzende der kirchenrechtlichen Kommission, haben in Rom mit den verschiedenen zuständigen Stellen geredet und deutlich gemacht, warum das ein wichtiges Projekt ist. Und damit hatten sie Erfolg.

Von Felix Neumann