Missbrauch begünstigende Strukturen müssten abgeschafft werden

Betroffene: Kirche hat mehr Empathie für Täter als für Missbrauchte

Veröffentlicht am 08.03.2021 um 11:41 Uhr – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Johanna Beck hat in ihrer Kindheit Missbrauch erlebt und kann den Mann trotzdem heute in der Kirche nicht anklagen, sondern nur Zeugin sein. Sie sieht in diesen Verfahren die Gefahr einer Retraumatisierung – und kritisiert falsche Prioritäten.

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Eine der Sprecherinnen des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz, Johanna Beck, hat die immer noch fehlende Sensibilität für Betroffene sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche kritisiert. "Bis heute bringen viele Verantwortliche den Tätern und der Institution mehr Empathie entgegen als den von Missbrauch Betroffenen", sagte Beck in einem Interview des Katholischen Stadtdekanates Stuttgart am Montag. Die Kirche müsse dafür Sorge tragen, dass es keine weiteren Opfer geben könne.

Die 37-Jährige berichtet, sie habe als Kind in einem Pfadfinder-Zeltlager Missbrauch erlebt, sei aber nicht gehört worden. "Einen Priester und Ordensmann zu beschuldigen, das durfte nicht sein, das gab es nicht." Erst durch Veröffentlichung der MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz habe sie sich ermutigt gefühlt, ihre Geschichte öffentlich zu machen, zunächst anonym, später unter ihrem Namen. Vor einem Jahr habe sie dann eine Zeugenaussage bei der Kommission sexueller Missbrauch der Diözese Rottenburg-Stuttgart gemacht und warte seither auf eine offizielle Mitteilung.

Der von ihr beschuldigte Ordensmann arbeite heute im Bistum Salzburg in einem Haus, "in dem Firmgruppen übernachten und Skifreizeiten für Familien angeboten werden", so Beck. Wegen ihrer Zeugenaussage dürfe er in der Diözese Rottenburg-Stuttgart jedoch keine Exerzitien mehr anbieten. "Das war für mich ein wichtiges Zeichen, weil ich sehe, dass ich mit meiner Aussage etwas erreicht habe." Allerdings zeige sich in dem Fall "das ganze Problem der katholischen Kirche", da der Ordensmann "einfach an eine andere Stelle in ein anderes Bistum verschoben" wurde.

Kirchenrechtlich gehe es nicht um sexuelle Selbstbestimmung

Zudem könne sie den Mann in der Kirche nicht anklagen, sondern nur Zeugin sein. "Kirchenrechtlich geht es in dem Verfahren auch nicht um einen Verstoß gegen die Würde und die sexuelle Selbstbestimmung eines Menschen, sondern um einen Verstoß gegen den Zölibat", sie habe deshalb keine Akteneinsicht. Durch diese Art berge ein solches Vorgehen ein "ungeheures Retraumatisierungspotential".

Mit Blick auf die Auseinandersetzungen um das Missbrauchsgutachten im Erzbistum Köln sagte Beck, ein "aufrichtig bereuender Bischofsrücktritt wäre ein starkes Zeichen", damit seinen jedoch "alle personellen Verstrickungen nicht aus der Welt geschafft. Die katholische Kirche hat ein Leitungsproblem". Missbrauch begünstigende Strukturen müssten abgeschafft und ein System der gegenseitigen Kontrolle eingeführt werden. Auch theologische Denkmuster müssten daraufhin überprüft werden, ob sie geistlichen und sexuellen Missbrauch begünstigten.

Persönlich habe sie sich der Kirche über die Jahre und durch ihre Kinder wieder angenähert, mittlerweile in ihrer Gemeinde eine spirituelle Heimat gefunden. Der Glaube und eine Therapie hätten ihr geholfen, den Missbrauch zu verarbeiten. "Die Kirche hat mich verletzt und sie heilt, heute überwiegt für mich das Heilende." (cph)