Über Schuld und Vergebung

Veröffentlicht am 08.05.2015 um 00:00 Uhr – Von Sabine Just (KNA)  – Lesedauer: 
Zweiter Weltkrieg

Bonn ‐ Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Historiker Harald Biermann spricht über die Rolle die Kirche bei der Aufarbeitung.

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Frage: Herr Professor Biermann, wie nahmen die Deutschen das Kriegsende und die unmittelbare Zeit danach wahr?

Biermann: Zunächst stand den Zeitgenossen am 8. Mai 1945 natürlich der Krieg direkt vor Augen. Die Mehrzahl der Deutschen war froh, dass der Krieg zu Ende war. In den letzten Kriegsmonaten hatten die Wehrmacht und die Zivilbevölkerung enorme Verluste erlitten. Allein im Januar 1945 sind mehr als 450.000 deutsche Soldaten getötet worden. Unmittelbar nach Kriegsende kam eine Phase, wo sich die Öffentlichkeit intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen musste. Deutsche Zivilisten wurden gezwungen, sich befreite Konzentrationslager anzusehen. Dann folgten Jahre, in denen man das Vergangene vergessen wollte.

Bild: ©KNA

Harald Biermann, Historiker im Haus der Geschichte in Bonn.

Frage: Kann man in den 1950er Jahren von einem Verdrängungsprozess sprechen?

Biermann: Ja. Man wollte unbedingt nach vorne schauen. In den 1950er Jahren herrschte eine Stimmung vor, die der Philosoph Hermann Lübbe einmal "kommunikatives Beschweigen" genannt hat. Alle Erwachsenen hatten unter dem Dritten Reich gelebt. Sie wussten ganz genau, was passiert war, und das musste man nicht immer in der Öffentlichkeit demonstrieren. Übrigens war dennoch das Tagebuch der Anne Frank das meistgelesene Buch in den 1950er Jahren.

Frage: Wann änderte sich die Wahrnehmung?

Biermann: Einer der großen Drehpunkte in der Auseinandersetzung waren dann die großen NS-Prozesse ab Ende der 1950er Jahre. In Ulm gab es einen Einsatzgruppenprozess, der wirkte sich stark auf die Wahrnehmung der Wehrmacht aus. In der Öffentlichkeit herrschte bis dahin das Bild vor, dass die Wehrmacht irgendwie sauber und ehrlich gekämpft habe. Nun wurde klar, dass auch Wehrmachtsangehörige abscheuliche Kriegsverbrechen begangen hatten.

Frage: Sie sprechen die Verbrechen der Wehrmacht an; ab wann wurde die Schuld in Hinblick auf den Holocaust thematisiert?

Biermann: Die Rezeption des NS-Regimes und der Verbrechen an den europäischen Juden hat eine große Zäsur und die liegt Anfang der 1960er Jahre mit dem Eichmann-Prozess in Israel und den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt am Main. Die Prozesse sind aufmerksam verfolgt worden und haben stark in die deutschen Massenmedien hineingewirkt. Nach dieser Aufklärungskampagne konnte niemand in der Bundesrepublik mehr sagen, dass er nichts hätte wissen können.

Frage: Welche Rolle spielten die sogenannten 68er bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit?

Biermann: Die 68er meinen, dass es ohne sie keine Aufarbeitung gegeben hätte. Das ist falsch. Sie konnten sich auseinandersetzen, weil Grundlegendes durch die Auschwitzprozesse schon bekannt war. Es war ein Generationenkonflikt, der mit schwerem Geschütz ausgefochten wurde.

Frage: 1979 kam dann eine neue Dimension der Erinnerung: durch die US-amerikanische Serie "Holocaust"...

Biermann: ...die den Holocaust in das Zentrum unseres Geschichtsbewusstseins rückte. Alle anderen Perioden sind dadurch ins Hintertreffen geraten.

Frage: Welche Rolle spielten die beiden großen Kirchen in Deutschland bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit?

Biermann: Die Kirchen haben eine große Funktion in Bezug auf das Erinnern. Sie sind Orte, in denen sich Menschen, die durch den gleichen Glauben verbunden sind, auf Themen einlassen. Wenn in diesem geschützten Raum über die Diktatur gesprochen wird, über Schuld und Vergebung, dann sind das wichtige Momente. Schuld, Täterschaft, Versöhnung, das sind große Themen auch des Glaubens, die die Kirchen qua Amt behandeln. Wenn die Kirchen immer wieder darauf hinweisen, dass die meisten, die schuldig geworden sind, auch Christen waren, dann ist viel gewonnen, weil wir dann auch erkennen, dass der Mensch fähig ist zum Guten und zum Bösen. Dieses Bewusstsein herzustellen, das ist eine der großen Aufgaben der Kirchen.

Frage: Warum sind Zeitzeugen für die Erinnerung so wichtig?

Biermann: Zeitzeugen sind ein wichtiges Medium der Geschichtsvermittlung, gerade bei sehr einschneidenden Erlebnissen wie der Haft in einem Konzentrationslager. Die Überlebenden können aus eigener Anschauung darüber berichten. Wenn man sagt, sechs Millionen Juden sind getötet worden, das kann man sich gar nicht vorstellen. Wenn Sie mit einem Überlebenden sprechen, der von seiner Drangsal, von seinen Nöten berichtet, dann wird Geschichte greifbar.

Frage: Auch in KZ-Gedenkstätten wird Geschichte greifbar. Sollte daher der Besuch in einer solchen Gedenkstätte verpflichtend für deutsche Schulklassen sein?

Biermann: Der obligatorische Charakter eines Besuches im KZ ist meines Erachtens eher problematisch. Sie können nicht von einem Menschen erzwingen, sich darauf einzulassen. Sie können sehr genau sehen, welche Schulklasse dorthin geschleift wird und welche freiwillig dort ist. Ich bin dafür, dass man alles tut, um dieses Angebot zu machen. Aber einen Zwang halte ich pädagogisch für falsch.

Frage: Wie wird die Erinnerung sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ändern?

Biermann: Ich glaube, dass auch zukünftigen Generationen die Verantwortung vor Augen stehen wird, sich mit den Tiefpunkten der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Die Singularität von Auschwitz bleibt ein historisches Faktum - der Holocaust ist nicht zu relativieren. Der Zivilisationsbruch bleibt Bestandteil der deutschen Erinnerung.

Aktuell: Kirche und Politik gedenken dem Kriegsende

Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler hat davor gewarnt, einen Schlussstrich unter die Zeit des Nationalsozialismus zu ziehen. Es gebe keine moralische Rechtfertigung dafür, die Erinnerung daran nicht wachzuhalten, sagte Winkler am Freitag im Bundestag. Der 8. Mai 1945 markiert für Winkler die tiefste Zensur für die Deutschen. Es sei danach ungewiss gewesen, ob die Deutschen je wieder in einem einheitlichen Staat zusammenleben würden. Bundestagspräsident Norbert Lammert betonte, der 8. Mai stehe zugleich für Ende und Anfang. Erst die Befreiung mit dem Kriegsende habe einen Neuanfang ermöglicht. Auch die katholischen Kirchen äußerten sich zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. "Wenn wir dieses Tages heute gedenken, sind wir dankbar, dass aus den äußeren Trümmern und den inneren Zerrüttungen nach dem totalen Zusammenbruch eine neue stabile, friedliche und demokratische Ordnung Europas erwachsen ist", erklärten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Die ehemaligen Kriegsgegner hätten, entgegen allem Erwartbaren, dem deutschen Volk die Hand zur Versöhnung geboten. "Diese ausgestreckte Hand erleichterte es Deutschland wesentlich, seine Schuld für einen verbrecherischen Vernichtungs- und Auslöschungskrieg ehrlich zu bekennen", so die beiden Bischöfe. Auch Heinz Josef Algermissen, Präsident der internationalen katholischen Friedensbewegung "Pax Christi", bezeichnete den 8. Mai 1945 als "Tag der Erlösung", an dem Deutschland von der NS-Schreckensherrschaft befreit worden sei. (gho/KNA/dpa)
Von Sabine Just (KNA)