Union: Zwischen Populismus und volkskirchlichen Resten
Da muss der geneigte Leser doch das ein oder andere Mal zum Deckblatt zurückblättern, um sich zu vergewissern: Doch, doch, man hat das Wahlprogramm der Unionsparteien vor sich. Bei dem doch sehr schwerwiegenden Fokus auf die Wirtschaft, den das Programm setzt – er ist sogar optisch mit seinen vielen Bullet Points und wenigen Fließtext beinahe wie eine Art Geschäftspräsentation aufgebaut – könnte es sich hier auch um eine liberale Agenda handeln. Doch das verrät schon Einiges.
Der Mensch wird hier in allererster Linie als jemand verstanden, der arbeitet. Allerdings geht es wenig um Menschen, sondern eher um Gruppen: "die" Wirtschaft, "die" Schutzberechtigten, "die" Organisierte Kriminalität. Es geht viel um Organisationen und Gruppen, aber wenig um Menschen an sich. Dass die auch Individuen sind, dass sie Dinge tun außer zu arbeiten – das tritt hier eindeutig in den Hintergrund. "Mehr Markt, weniger Staat" (S. 20) und andere Floskeln bevölkern dafür dieses Programm, in dem statt konkreter Zahlen oder Strategien markige Slogans im Mittelpunkt stehen.
Neben der Wirtschaft nimmt das Thema Migration – im allerweitesten nur denkbaren Sinn – einen großen Platz im Programm ein. Den subsidiären Schutz an sich (41) wie den Familiennachzug für Menschen mit subisidiärem Schutzstatus abzuschaffen gehört ebenso dazu wie Asylverfahren außerhalb der EU. Das spielt auf Pläne des Vereinigten Königsreichs aus dem Jahr 2024 an, als die damalige Regierung die Asylverfahren nach Ruanda auslagern wollte. Dem Land wirft das UN-Flüchtlingshilfswerk außergerichtliche Hinrichtungen, Folter und Todesfälle in der Haft vor. Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königsreichs bezeichnete die Pläne als rechtswidrig. All das steht neben den kürzlich in den Bundestag gebrachten Initiativen zu Zurückweisungen auch von Asylberechtigten im Wahlprogramm. Zur Verabschiedung kam eine Entschließung nur mit Stimmen der AfD, das sorgte für den bekannten Eklat. Von den beiden großen Kirchen gab es für diese Politik zuletzt ungewohnt scharfe Kritik, wenn die auch von einzelnen deutschen Bischöfen nicht geteilt wird.
Migration als prägendes Thema
Das Thema Migration durchzieht auch Themen, die eigentlich in anderen Bereichen des Textes stehen. So will die Union etwa die reichhaltige deutsche Vereinslandschaft fördern (55). Von muslimischen Einrichtungen erwartet man dagegen eine Art Gesinnungsprüfung: Sie sollen sich zum Existenzrecht Israels und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen. Klar wird: Der Stil der Union ist schärfer und populistischer geworden, auch auf Kosten von Minderheiten. Das zeigt sich auch beim Abschnitt über Bürgergeldempfänger (29), aus dem durchaus eine Art Generalverdacht herausgelesen werden kann, oder ideologischen Passagen wie der Ablehnung der Gendersprache (wobei die Union nicht definiert, was diese von gendergerechter Sprache abgrenzt, die sie befürwortet).
Eher unklar ist die Haltung von CDU und CSU im sozialen Bereich. Man möchte eine höhere Tarifbindung (30), aber auch mehr Tariföffnungsklauseln (31). Die Pflegeberufe sollen angesichts des Fachkräftemangels attraktiver werden (70) – von mehr Geld ist allerdings nicht die Rede. Die zum Teil großen Probleme auch kirchlicher karitativer Träger wird das kaum lösen. Weltweit will man zwar motiviert durch das eigene christliche Menschenbild "den Ärmsten und Schwächsten" helfen (47), verknüpft die eigene Entwicklungspolitik aber neben der Rechtsstaatlichkeit und der wirtschaftlichen Kooperation auch mit dem "wirksamen Stopp illegaler Migration" (48).

Friedrich Merz ist der Kanzlerkandidat der Unionsparteien.
Deutlich näher an den Kirchen ist die Union in Sachen Familienpolitik. Die Ehe soll gestärkt bleiben – auch wenn hier ausdrücklich von der "auf Dauer angelegten Verbindung zweier Menschen" (60) die Rede ist und nicht von Mann und Frau. Den Paragrafen 218 zum Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen will man beibehalten (62), ganz im Sinne der Kirchen. Zudem sollen Familien finanziell entlastet und Beratungs- wie Betreuungsangebote ausgebaut werden. Auch hier wieder der Link zur Migration: Zwar soll das Kindergeld angehoben werden – jenes für im EU-Ausland lebende Kinder jedoch an die "Unterhaltskosten des jeweiligen Landes angepasst" (61) werden. Ebenso angedacht ist die Abschaffung des von der Ampelregierung aufgesetzten Selbstbestimmungsgesetzes (62). Das ist im Sinne der Kirche, deren Lehramt die Geschlechtsangleichung sogar ganz ablehnt (zuletzt etwa in der vatikanischen Erklärung "Dignitas infinita").
Zwiespältiger ist die christdemokratische Klimapolitik. Papst Franziskus schrieb 2015 in seiner Umweltenzyklika "Laudato si": "Die dringende Herausforderung, unser gemeinsames Haus zu schützen, schließt die Sorge ein, die gesamte Menschheitsfamilie in der Suche nach einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung zu vereinen, denn wir wissen, dass sich die Dinge ändern können." (LS 13) Dagegen heißt es bei der Union: "Wir sehen in der individuellen Mobilität den Inbegriff von Freiheit und spielen deshalb unterschiedliche Verkehrsmittel nicht gegeneinander aus. Anti-Auto-Haltung, Fahrverbote für Innenstädte, das Umwidmen von Parkplätzen und ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen lehnen wir ab." Dagegen positioniert sie sich aber auch als treu zum Pariser Klimaabkommen (21, auch der kirchliche Passus der "Bewahrung der Schöpfung" fällt) und will eine CO2-Kreislaufwirtschaft etablieren (22), man will aber auch weiter chemische Pestizide (35) auf deutschen Äckern. Das Programm ist hier zwar konservativ, doch dezidiert christlich oder auf Linie der Kirchen ist es nicht.
Deutschland als christlich geprägtes Land
Überhaupt, die Kirchen. Dem Programm nach ist Deutschland "geschichtlich, kulturell und wertemäßig tief vom christlichen Glauben geprägt. Die Kirchen leisten einen unverzichtbaren Beitrag für Bildung, Gemeinwohl und gesellschaftlichen Zusammenhalt." Die Union bekennt sich zu christlichen Feiertagen, Sonntagsruhe, Religionsunterricht und einer "geregelten Kooperation zwischen Staat und Kirche" (57). Man schätzt es, "wenn Religion zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt und Orientierung gibt". Man will jüdisches Leben schützen und Muslime "in unserer Mitte stärken", warnt aber dicht dahinter direkt vor einem ferngesteuerten Islam. Der Schutz verfolgter Christen findet sich ebenso (47) wie die Wertschätzung religiöser Einrichtungen als Teil der kulturellen Tradition, die die CDU/CSU als "Leitkultur" begreift. Doch das alles ist nur noch eine schwache Reminiszenz an den christlichen Ursprung von CDU und CSU aus Zeiten wie Adenauer oder Kohl, ein zentrales Moment des Papiers ist dieser Aspekt nicht.
Die Töne sind schriller geworden in der Union, sie ist nach rechts gerückt. Das Bekenntnis zum Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen stand im Programm von 2021 so nicht mehr, es ist wieder aufgenommen worden. Über Menschen mit Migrationserfahrung, insbesondere Muslime, wurde schon einmal ruhiger und mit weniger Generalverdacht gesprochen. Die Union nähert sich dem Populismus, was sich nicht zuletzt in nur sehr spärlichen konkreten Maßnahmen ablesen lässt. Christliche Werte als eigene Entität oder als Orientierung in der Sozialpolitik (um die Katholische Soziallehre geht es überhaupt nicht) bleiben außen vor. Als konservatives Merkmal sind die volkskirchlichen Reste noch Teil der Fassade, christliche Inhalte treten dagegen mehr und mehr zurück. Sie taugen nur noch zur Abgrenzung des "wir" von den "anderen". Im Programm lässt sich nachlesen: Die Union wendet sich von der Merkel-Zeit ab und stellt ihren Kurs auf Populismus. Sie folgt damit anderen konservativen Parteien in Europa, die in der Annäherung an extreme Kräfte ihr Heil suchen. Nicht zuletzt die jüngst entschiedene Ablehnung des Unions-Kurses durch Bischöfe und kirchliche Verbände zeigt, dass sich christliche Überzeugung und die Parteien mit dem C voneinander wegbewegen.