Theologe über eine zeitgemäße Rezeption des Textes

Wie geht Mission heute? 60 Jahre Konzils-Dekret "Ad gentes"

Veröffentlicht am 07.12.2025 um 12:00 Uhr – Von Klaus Vellguth – Lesedauer: 

Bonn ‐ Es braucht ein neues Missionsverständnis, fordert der Theologe Klaus Vellguth. Vor allem überkommene Zentrismen müssten weg – sei es die Konzentration auf das Männliche, auf Europa oder der Anthropozentrismus allgemein. Wie eine Neuorientierung gelingt, analysiert er im katholisch.de-Gastbeitrag.

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Sechzig Jahre nach dem Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils bietet das Missionsdekret "Ad gentes" einen komplexen, vielfach spannungsvollen Zugang zum Thema Mission. Bereits das erste Kapitel des Missionsdekrets, das am 7. Dezember 1965 von Papst Paul VI. promulgiert wurde, legt allerdings einen Finger in die Wunde: Das Dokument beinhaltet zunächst einmal kein einheitliches Missionsverständnis, sondern muss eher als das Ergebnis verschiedener theologischer Strömungen und innerkonziliarer Kompromisse gelesen werden. So sind Konzilsdokumente nun einmal, die in kirchenpolitisch turbulenten Zeiten entstanden sind.

Dennoch wird in Artikel 2 des Missionsdekrets eine prägende Grundaussage formuliert, die bis heute nichts an ihrer Relevanz verloren hat: "Die Kirche ist ihrem Wesen nach missionarisch." Begründet wird das missionarische Wesen der Kirche von den Konzilsvätern (welch ein problematischer Begriff: Heute lässt sich ein Konzil ohne "Konzilsmütter" kaum mehr denken) mit dem trinitarischen Sendungsgeschehen. Diese trinitarische Verankerung des Missionsgedankens bildet das theologische Fundament des gesamten Dekrets. Mission wird dabei eben nicht instruktionstheoretisch beziehungsweise juridisch vom sogenannten "Missionsauftrag" im Neuen Testament abgeleitet, sondern ontologisch aus der Selbstmitteilung Gottes. Inkarnatorische und pneumatologische Überlegungen fließen so in eine missionarische Ekklesiologie ein, bei der die Kirche als fortgesetzte Sendung Christi und des Heiligen Geistes verstanden wird. Damit wird Mission zur Wesensäußerung kirchlicher Existenz, worauf insbesondere Papst Franziskus in seinem Pontifikat immer wieder hingewiesen hat. Besonders deutlich formuliert hat er dies zu Beginn seines Pontifikats in seiner Exhortatio "Evangelii gaudium".

Missionswissenschaftler Klaus Vellguth
Bild: ©Privat

Klaus Vellguth ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät Trier und Honorarprofessor für Missionswissenschaft an der VPU Vinzenz Pallotti University in Vallendar.

Mission als dialogischer Kommunikationsprozess

Doch wie kann man heute das vor 60 Jahren formulierte Missionsdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils hilfreich lesen? Fruchtbar dürfte ein Blick in die Gegenwart und die Frage sein, vor welchen zentralen Herausforderungen die Mission der Kirche heute steht – ganz im Sinne des Konzils, dessen zentrales Anliegen ein "Aggiornamento" war, also eine Öffnung der Kirche zum Heute.

Ein wichtiges Aggiornamento des Missionsverständnisses ergibt sich dabei aus einem theologischen Impuls der asiatischen Theologie, die vom Begriff einer "missio ad gentes" abrückte und stattdessen den Begriff der "missio inter gentes" prägte. Der Übergang von "ad" zu "inter" markiert eine grundlegende Verschiebung: Mission wird nicht mehr als eine einseitige Bewegung von einem Zentrum hin zu einer Peripherie oder gar von einem aktiven Subjekt zu einem passiven Objekt verstanden, sondern als ein relationales Geschehen zwischen Menschen, Gemeinschaften und Kulturen. Damit wird ein missionarischer, kolonialer Zentrismus überwunden. Mission entwickelt sich zum dialogischen Kommunikationsprozess, der Zwischenräume eröffnet und dabei klassische – auch kirchliche – Selbstgewissheiten infrage stellt.

Solch ein Perspektivwechsel hat konkrete Konsequenzen, was an dieser Stelle am Beispiel der Überwindung dreier Zentrismen ausgezeigt werden soll: des Androzentrismus, also einer Weltanschauung, die das Männliche als Norm setzt, des Eurozentrismus und des Anthropozentrismus.

Missionarische Überwindung des Androzentrismus

Eine wesentliche Herausforderung für die Kirche in Europa, die ihrem Selbstverständnis nach missionarisch ist, besteht darin, Wege zu finden, ihre strukturell wie kulturell mangelnde Gendersensibilität sowie die fortbestehenden Defizite geschlechtergerechter Teilhabe zu überwinden. Für die große Mehrheit der in der Kirche engagierten Frauen und Männer stellt es einen kaum akzeptablen Anachronismus dar, dass die katholische Kirche im 21. Jahrhundert nicht einmal jene in der gesellschaftlichen Praxis längst etablierten Mindeststandards geschlechtergerechter Partizipation gewährleistet und Frauen weiterhin systematisch marginalisiert. Dieser strukturelle Missstand führt zu einem erheblichen Verlust kirchlicher Glaubwürdigkeit, insbesondere dort, wo die Kirche sich selbst als prophetisch-missionarische Akteurin im Einsatz für Gerechtigkeit und Menschenwürde versteht. Die Überwindung des Androzentrismus bezieht sich sowohl auf die anhaltende Verweigerung des Zugangs von Frauen zu leitenden und sakramentalen Ämtern als auch auf die Zurückweisung moderner Genderkonzepte.

„Die Zeit ist vorbei, in der Vertreter europäischer Ortskirchen ihre theologischen Positionen als universale Norm setzen konnten, ohne zu reflektieren, dass diese oftmals von einem Eurozentrismus geprägt waren, den zukünftige Generationen womöglich als europäischen Provinzialismus einstufen werden.“

—  Zitat: Klaus Vellguth

Heute stellt die Forderung nach der Überwindung eines in klerikal geprägte Strukturen eingenähten Androzentrismus sowie nach einer fairen und gleichberechtigten Partizipation aller Menschen unabhängig von ihrer geschlechtlichen Identität eine unverzichtbare Dimension notwendiger struktureller und kirchenrechtlicher Reformprozesse dar. Darüber hinaus sieht sich eine missionarische Kirche vor die Aufgabe gestellt, sich im Sinne einer gendersensiblen Relationalität auch für vielfältige geschlechtliche Identitäten und Beziehungsformen zu öffnen. Queere Personen waren in kirchlichen Kontexten über lange Zeit hinweg unsichtbar oder ausdrücklich unerwünscht. Der mutige Einsatz zahlreicher queerer Menschen, ihre von Gott geschenkte Sexualität authentisch zu entdecken und zu leben, könnte jedoch als Impuls für alle Christinnen und Christen verstanden werden, die kulturell wie theologisch bedingten Grenzen ihres eigenen Verständnisses von Sexualität kritisch zu reflektieren und gegebenenfalls heilsam zu weiten.

Missionarische Überwindung des Eurozentrismus

Ein relational verstandenes Missions- und Theologieverständnis impliziert auch die Entwicklung und Etablierung einer relationalen Ekklesiologie, in der die Kirche nicht als statisches Gebilde, sondern als dynamisches Netzwerk wechselseitiger Bezogenheiten konzipiert und gestaltet wird. Eine solche Perspektive stellt gerade im Zeitalter wachsender Interkulturalität und globaler Vernetzung eine zentrale Voraussetzung dar, um kirchliches Leben zukunftsfähig zu entwickeln und dabei die vielfältigen kulturellen und sozialen Kontexte ernst zu nehmen, in denen sich die Kirche realisiert.

Ein relationales Missionsverständnis betont deshalb die Bedeutung der Ortskirchen und fordert dazu auf, neue Formen des Dialogs unter ihnen zu kultivieren. Die Zeit ist vorbei, in der Vertreter europäischer Ortskirchen ihre theologischen Positionen als universale Norm setzen konnten, ohne zu reflektieren, dass diese oftmals von einem Eurozentrismus geprägt waren, den zukünftige Generationen womöglich als europäischen Provinzialismus einstufen werden. Eine relationale, missionarische Ekklesiologie gründet vielmehr auf der Einsicht, dass religiöse Identität nicht in starren, ideologisch aufgeladenen Glaubenssätzen fixiert werden darf, die als verbindlich kommuniziert werden. Sie versteht Identität vielmehr in ihrer Fluidität als dynamischen Prozess des Wachsens, der sich wesentlich in der Beziehung zu den dialogischen Gegenübern vollzieht und sich durch diese Beziehung in Prozessen lebenslangen Wachstums neu realisiert.

Wie eine solche relationale Ekklesiologie im Verhältnis zwischen Universalkirche und Ortskirchen konkret Gestalt gewinnen kann, wurde in jüngerer Zeit insbesondere anhand des Begriffs der Synodalität präzisiert. Synoden stellen das Modalprinzip einer so verstandenen Universalkirche dar: Sie eröffnen den Raum, in dem Ortskirchen zusammenkommen, sich austauschen und die Einheit der katholischen Kirche durch ihre jeweiligen Eigenarten bereichern. In ihnen wird der Reichtum der Weltkirche sichtbar; in ihnen können zugleich Perspektiven artikuliert werden, die bislang nicht gedacht oder benannt wurden.

Blick in die Audienzhalle bei den Beratungen der Weltsynode
Bild: ©KNA/Vatican Media/Romano Siciliani

Dem verstorbenen Papst Franziskus war Synodalität ein Anliegen (Blick in die Audienzhalle während der Weltsynode im Vatikan, Foto aus Jahr 2024).

Die Internationale Theologenkommission hat diese theologischen Dimensionen der Synodalität in ihrem 2018 veröffentlichten Dokument "Synodalität in Leben und Sendung der Kirche" weiter ausgearbeitet. Darin wird hervorgehoben, dass "die Lehre der Schrift und der Tradition bezeugt, dass die Synodalität eine konstitutive Dimension der Kirche ist, die durch sie als Gottesvolk auf dem Weg und als vom auferstandenen Herrn einberufene Versammlung in Erscheinung tritt und sich gestaltet." Im Zentrum synodaler Prozesse stehen dabei nicht kirchliche Strukturen als solche, sondern die Einladung zur Evangelisierung beziehungsweise zur Mission, die aus einer geistlichen Tiefe erwächst, den Weg der Umkehr eröffnet und kirchliches Handeln in einen gemeinschaftlich getragenen Transformationsprozess führt.

Missionarische Überwindung des Anthropozentrismus

Die Konzilsväter verwiesen mit Blick auf das von ihnen eingeforderte Aggiornamento auf die "Zeichen der Zeit". Eine zentrale Herausforderung, die von ihnen zweifellos als solches interpretiert worden wäre, ist zu Beginn des dritten Jahrtausends die eskalierende Umwelt- und Klimakrise. Im Horizont des Anthropozäns fordert sie Christinnen und Christen in ihrem missionarischen Engagement auf grundsätzliche Weise heraus. Die ökologische Krise, die wesentlich durch menschliches Handeln verursacht ist, problematisiert die anthropozentrische Weltsicht, die tief in der westlichen Geistesgeschichte verankert und auch im Selbstverständnis der christlichen Tradition wirkmächtig ist. Der Anthropozentrismus, der wohl auch das Denken vieler Konzilsväter geprägt haben wird, bedarf heute einer kritischen Revision und gegebenenfalls einer deutlichen Relativierung. Zu einer zentralen theologischen und kirchenpolitischen Priorität wurde die Umweltfrage zuletzt unter Papst Franziskus. Er stärkte das missionarisch-ökologische Problembewusstsein der Kirche und veröffentlichte 2015 mit Laudato si’ die erste Umweltenzyklika der Kirchengeschichte. Franziskus entwickelte darin die Vision einer intra- und intergenerationellen Gerechtigkeit. Er rief zu einem missionarischen Handeln angesichts der Klimakrise auf und kritisierte dabei eine "fehlgeleitete Anthropozentrik". Dabei verwies er auf die "unsichtbaren Bande", die alle Geschöpfe letztlich verbinden: Gemeinsam bilden alle Geschöpfe eine "universale Familie", die von einer gegenseitigen Haltung und Kultur des Respekts und der Demut geprägt sein sollte.

Missionsdekret als Inspirationsquelle

Der asiatische Impuls einer "missio inter gentes" regt also dazu an, Fragen der Mission stärker relational zu reflektieren und dabei einige fast schon narzistisch anmutende Zentrismen zu überwinden. Die missionarische Überwindung des Androzentrismus, die missionarische Überwindung des Eurozentrismus sowie die missionarische Überwindung des Anthropozentrismus sind Beispiele für ein missionarisches Aggiornamento. Die Dekonstruktion der Zentrismen führt dazu, dass interkulturelle, ekklesiologische und kosmologische Freiräume entstehen, die neu gefüllt werden können: Von einer Theologie, die dem Leben dient.

Von Klaus Vellguth

Forschungsprojekt zum Vatikanum

Klaus Vellguth ist Mitinitiator des Forschungsprojektes "Das Zweite Vatikanische Konzil: Ereignis und Auftrag", an dem150 Theologinnen und Theologen aus aller Welt beteiligt sind. Sie arbeiten in fünf Kontinentalgruppen (Afrika / Asien / Europa / Lateinamerika & Karibik / Nordamerika, Australien & Ozeanien) und entwickeln einen neuen Stil der Theologie, der nicht die monolithischen Aussagen einzelner Theologinnen und Theologen, sondern die dynamischen Diskurse interkulturell diverser Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Sprache bringen will. Im Rahmen dieses Projektes wird bis 2027 ein zwölfbändiger Kommentar zum Zweiten Vatikanum veröffentlicht. Die bereits erschienenen fünf Bände werden Papst Leo XIV. am 10. Dezember in Rom überreicht.