Gesellschaftliche Entwicklungen stellen lange eingeübte Routinen infrage

Ein Mit- und Gegeneinander: Die Kirche und die Politik

Veröffentlicht am 18.02.2023 um 12:10 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Kirche kann und will politisch sein, steht aber in unterschiedlichen Verbindungen zu verschiedenen Staaten. Die haben sich aus verschiedenen historischen Konstellationen entwickelt. Da sich die Gesellschaft verändert, entwickeln sich in der Kirche nun neue Ansätze zur politischen Arbeit.

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Es ist die klassische Ikonographie eines Königs (und auch einer Königin): Auf dem Kopf sitzt die Krone und in den Händen liegen das Zepter und der Reichsapfel. Dass auf diesem ein Kreuz oben aufsitzt, ist kein Zufall: Denn die Herrscher Europas empfanden sich über einen langen Zeitraum dezidiert als christliche Herrscher – und damit sind sie nicht allein. Auch das heute noch gültige deutsche Grundgesetz hält eingangs fest, dass es "im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen" erlassen wurde. Nicht erst seit die Zahl der Kirchenmitglieder in Europa zurückgeht stellt sich allerdings die Frage, wie nah oder fern sich Staat und Kirche eigentlich stehen – und welche politischen Folgen daraus resultieren.

Mit Blick auf die Heilige Schrift ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Beziehung zum Staat bei Jesus Christus kein besonders ausgeprägtes Thema war. Er schaute vor allem nach vorne: Das Reich Gottes würde bald Wirklichkeit werden, eine Beschäftigung mit dem irdischen Staat war deshalb wenig relevant. Von den wenigen Aussagen Jesu zum Thema sind vor allem der Aufruf zu einem herrschaftsfreien Leben in der Gemeinschaft seiner Anhänger (Mk 10,42) sowie das Zitat "So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!" (Mk 12,17) für das Verhältnis von Staat und Kirche rezipiert worden.

Acht Männer sitzen am Kopfende eines langen Tisches vor einem Kamin (schwarz-weiß)
Bild: ©KNA

Das 1933 unterzeichnete Reichskonkordat zwischen dem Vatikan und Nazi-Deutschland gilt bis heute.

Nun ließ die unmittelbare Verwirklichung des Reiches Gottes doch länger auf sich warten, als von den ersten Jesusanhängern angenommen, und die mittlerweile entstandene Kirche musste sich zum Staat positionieren – und anders herum. Dieses Verhältnis hat sich im Laufe der vergangen 2.000 Jahre immer wieder gewandelt und es entstanden je nach Epoche und Region ganz verschiedene Formen des Zusammenarbeitens oder Nebeneinanderexistierens. So etablierten sich auch verschiedene Formen, das gegenseitige Verhältnis zu regeln.

Eine bis heute praktizierte Form ist das Konkordat, also ein völkerrechtlicher Vertrag des Heiligen Stuhls mit einem Staat. 1122 lösten etwa der römisch-deutsche Kaiser Heinrich V. und Papst Calixtus II. den Investiturstreit um die Besetzung geistlicher Ämter mit dem Wormser Konkordat. Heute klären solche Verträge etwa in Deutschland, mit welchem Verfahren Religionsunterricht erteilt oder Bischofsstühle besetzt werden.

Kirche und Königshäuser

Dagegen plädierte der Reformator Martin Luther dafür, die Kirche säkularem Recht zu unterwerfen. In Großbritannien und den nordischen Ländern bildeten sich protestantische Staatskirchen, die eng mit dem Königshaus verbunden waren. Auch dieses Konstrukt gibt es noch heute in den reformierten Kirchen, so ist der britische König Charles III. gleichzeitig das weltliche Oberhaupt der Anglikanischen Kirche.

Eine weitere Tradition entstand in der Aufklärung: Deren Vordenker wollten Religion zur Privatsache machen und jedem die Freiheit zur Religionsausübung geben, Staat und Kirche also entflechten. Dies fand Eingang in die Verfassungen der USA und Frankreichs. Letzteres ging einen in Europa einzigartigen Weg: 1905 kappte es alle Verbindungen zum Vatikan, Kirche und Staat wurden vollständig getrennt.

Bild: ©picture alliance/Zoonar/Boris Breytman

Frankreich ist heute ein laizistischer Staat.

Mit der Zeit haben diese Modelle ineinandergegriffen, sodass sich heute in Europa sehr ähnliche Staat-Kirchen-Verhältnisse entwickelt haben. Egal, ob radikaler Laizismus wie in Frankreich oder Staatskirche wie in Großbritannien, in allen europäischen Ländern hat sich das sogenannte kooperative Modell durchgesetzt. Das heißt: An sich sind Staat und Kirche getrennt, in manchen Feldern arbeiten sie jedoch zusammen. "Das ist insbesondere im Bildungsbereich und der sozialen Fürsorge der Fall. In Deutschland sitzen Kirchenvertreter:innen auch in einigen Rundfunkräten und haben eigene Sendeplätze", sagt die Politikwissenschaftlerin Anja Hennig. Egal ob es sich nun um eine ehemalige Staatskirche nach lutherischem Modell wie in Schweden oder ein Konkordat in der katholischen Tradition handelt, beide Modi sind heute in ihren Konsequenzen sehr ähnlich: Hier können die Kirchen auf die Politik und die Politik auf die Kirchen versuchen Einfluss zu nehmen – und das geschieht auch.

Auch gesellschaftspolitische Fragen etwa zu geschlechtlicher Identität oder Orientierung, Abtreibung oder Sterbehilfe sind für die Kirchen relevant. Dabei machen sie Politik mit ganz unterschiedlichen Mitteln. Einerseits haben sie oft noch eine gewisse Basis in der Gesellschaft, Wortmeldungen schaffen es also immer mal wieder in die öffentliche Debatte und beeinflussen sie. Ein weiterer Baustein ist die Lobbyarbeit: Zu den genannten Themen verteilen die Kirchen Positionspapiere an Entscheider in Ministerien, die es immer wieder auch in Gesetzestexte schaffen. Wie groß der Einfluss der Kirche auf diesen informellen Wegen ist, hat 2014 eine Studie der Universität Münster gezeigt. Darin konnte das Forschungsteam für manche Gesetzesvorhaben den direkten Einfluss der Kirchen und ihre Einbindung in den demokratischen Prozess nachweisen. Um die Jahrtausendwende arbeiteten etwa Kirchenvertreter in der "Unabhängigen Kommission Zuwanderung" des Bundesinnenministeriums mit. So waren sie an der Entstehung eines neuen Zuwanderungsgesetzes wesentlich beteiligt.

Kirchen agieren professionell

Die Kirchen agieren dabei sehr professionell. Die Münsteraner Forscher analysierten politische Stellungnahmen von Kirchenvertretern in etwa 1.500 Medienberichten zwischen 1970 und 2004: "In fast 60 Prozent der untersuchten Äußerungen griffen Kirchenvertreter auf rein weltliche Begründungen zurück", so das Fazit. Statt mit Gott begründete die Kirche ihre Haltung viel häufiger etwa mit dem Schutz des menschlichen Lebens oder der Menschenwürde. Das ist auch für säkulare Politiker anschlussfähig. Der Gottesbezug fand sich bei der Häufigkeit der Begründungen erst auf Platz neun.

Wie viel Einfluss die Kirchen auf politische Entscheidungen haben, hängt auch davon ab, ob es christliche Parteien gibt. Diese stehen in der Tradition des bürgerlichen Katholizismus des 19. Jahrhunderts. Damals wollten Katholikinnen und Katholiken explizit in die Politik, um die Gesellschaft nach ihren Idealen zu gestalten. Das schlug sich auch auf die Gründung der Unionsparteien in Deutschland 1945 nieder, schreibt Winfried Becker im "Staatslexikon": "Die 1945 gegründete CDU bekannte sich in ihren ersten Programmen wie auf den Parteitagen von 1968 (Berlin), 1973 (Hamburg) und 1978 (Ludwigshafen) zur Grundlage des christlichen Glaubens und zur Verantwortung vor Gott und den Menschen." Teil dieses kirchlichen Strangs in die Gesellschaft war auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das lange Zeit von CDU-Mitgliedern geprägt wurde.

Bild: ©picture alliance/dpa/Volker Lannert

Mit Thomas Sternberg war von 2015 bis 2021 ein CDU-Politiker Präsident des ZdK.

Doch dieses eingeübte Zusammenspiel funktioniert nicht mehr so reibungslos wie früher. Schuld daran ist zum einen der gesellschaftliche Wandel. "Im Gegensatz zu vergangenen Jahrzehnten sind liberalere Regeln bei Schwangerschaftsabbrüchen und die Öffnung der Ehe auch für konservativere Parteien keine Tabus mehr", so Religionssoziologin Hennig. Dies sei Ausdruck von veränderten Wertehaltungen der vergangenen Jahrzehnte. Diese Entwicklung zeigt sich überall in Europa: Die Öffnung der Ehe für Homosexuelle wurde in Irland, einem sehr katholisch geprägten Land, 2015 per Referendum durchgesetzt – gegen das Votum der Kirche. Sie konnte die Menschen nicht mehr erreichen, konstatierte damals der Dubliner Erzbischof Diarmuid Martin: "Die meisten der jungen Menschen, die für 'Ja' gestimmt haben, sind Produkte unseres katholischen Schulsystems. Das wird eine große Herausforderung, wie wir die Botschaft der Kirche weitergeben können." Geradezu prototypisch zeigte sich in Irland, wie sich die Zeiten ändern: Ältere und Menschen aus ländlichen Gebieten stimmten mit "Nein", die Jüngeren aus urbanen Räumen beinahe durchweg mit "Ja", am Ende war es eine Mehrheit von 62 Prozent. Knapp 80 Prozent der Menschen in Irland sind katholisch.

Die Öffnung der Ehe als Gradmesser

Bei der Entscheidung über das gleiche Thema zwei Jahre später im deutschen Bundestag war das Bild ähnlich: Insgesamt waren gut 63 Prozent der Abgeordneten für die Öffnung der Ehe, das ist etwas niedriger als Umfragewerte in der deutschen Gesamtbevölkerung, wo die Zustimmungsrate zwischen 66 und 82 Prozent lag. Spannend war das Votum der Unionsparteien: Nur ein gutes Viertel der CDU- und nur 12 Prozent der CSU-Abgeordneten stimmten für das Gesetz.

Doch auch bei der Union nimmt der Einfluss der Kirche in manchen gesellschaftspolitischen Fragen ab. So enthielten sich die Parteien im Wahlkampf 2021 beim Thema Abtreibungsrecht einer Position. Die einzige Partei, die gegen dieses Recht votierte, war die AfD.

Bild: ©picture alliance / Fotostand | Fotostand / Matthey

Im Wahlkampf 2021 positionierte sich die Union zur Frage von Abtreibungsrechten nicht.

Das weist auf eine weitere Tendenz der vergangenen Jahre hin: Der schwindenden Bindungskraft großer Organisationen und dem Erstarken kleinerer Interessengruppen. Das schlägt sich auch auf das Kirchen-Politik-System durch. Dazu ein Blick in die USA: Dort sind Staat und Kirche strikt getrennt, Politik und Religion jedoch nicht. Die verfassten Kirchen sind hier nur ein Player unter mehreren religiösen Akteuren. "Kleinere oder größere Einflussgruppen arbeiten hier oft sehr erfolgreich für ihre Interessen", sagt Hennig. Derzeit lässt sich das etwa im Einsatz evangelikaler Gruppen für die Beschneidung von Frauenrechten bei der Abtreibungsregelung beobachten. Diese Gruppen sind oft gut finanziert, da es in den USA selbstverständlicher ist, für Interessengruppen, die einem persönlich sympathisch sind, regelmäßig zu spenden.

Ähnliche Muster haben sich auch in Europa entwickelt. Das zeigt etwa ein Blick nach Frankreich, als dort im Jahr 2013 die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare diskutiert wurde. Dagegen gingen damals hunderttausende Menschen auf die Straße, organisiert von der Initiative "Manif pour tous" ("Demo für alle"), zu der insgesamt 37 Verbände gehörten. Der Autor Carsten Främke analysiert jedoch: "Fast die Hälfte der Organisationen besteht aus Schein-Vereinen, die entweder keinen Rechtsstatus oder nicht einmal eine Internetpräsenz besitzen; die andere Hälfte sind entweder direkt oder durch das Engagement der Verantwortlichen mit der Kirche verbunden." Zudem seien Verbände wie etwa die Gemeinschaft Emmanuel dabei gewesen, die "teilweise Verbindungen zu US-amerikanischen ultrakonservativen Organisationen unterhalten". Daneben nahmen konservative und rechtsextreme Politiker an den Demonstrationen teil. Främke resümiert: "Was unter dem Deckmantel einer 'Demo für alle' daher kam, ist also in erster Linie ein breites Spektrum dessen, was die religiöse und politische Rechte Frankreichs zu bieten hat."

Gegen Gleichstellung und sexuelle Rechte

Einzelne katholische Gruppen haben sich also mit anderen Akteuren zusammengeschlossen, um die eigenen Ziele zu erreichen – nach politischen Gesichtspunkten. Das geschieht europaweit, haben Roman Kuhar und Aleš Zobec untersucht. Seit den Protesten in Frankreich habe sich eine steigende Zahl von Gruppen und Initiativen organisiert, "die sich gegen das wenden, was als unumkehrbarer Prozess der Gleichstellung der Geschlechter und sexueller Rechte in der Westlichen Welt erschien". Themen seien unter anderem Ehe, Geschlechtergerechtigkeit, Schwangerschaftsabbruch, Sexualkundeunterricht und Gender Mainstreaming. Das Christentum dient hier immer wieder als argumentatives Fundament. "Wie neuere Forschungen zu den Wurzeln der Anti-Gender-Bewegung gezeigt haben, war der Vatikan maßgeblich an der Entstehung des Begriffs und seiner Verbreitung in Europa und der ganzen Welt beteiligt", so die Forscher.

Politische Interessengruppen stehen in der politischen Auseinandersetzung neben und zum Teil auch gegen die Haltung der Amtskirche. Hennig beobachtet dabei eine wachsende Polarisierung und zunehmende Radikalisierung der Initiativen.

Der Erzbischof von Posen, Stanislaw Gadecki, ist derzeit Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz.
Bild: ©KNA

Der Erzbischof von Posen, Stanislaw Gadecki, ist derzeit Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz.

Diese Wechselbeziehungen aus Interessengruppen und der verfassten Kirche können durchaus spannungsgeladen sein. Gut zu sehen war das beim Verhältnis der polnischen Partei PiS und der katholischen Kirche. Vor der Wahl der PiS setzte sich die Kirche deutlich für die Partei und deren Kurs ein. "In all den Jahrzehnten nach dem Krieg gab es keinen solchen Moment eines übereinstimmenden Denkens zwischen Staat und Kirche. Das ist ein Augenblick des Umbruchs", sagte etwa der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki, nach deren Wahlsieg. Die polnische Amtskirche gilt bis heute als große Unterstützerin der Rechtspopulisten, auch bei der von der EU-Kommission stark kritisierten Justizreform. "Als mit der Personalunion von Justizminister und Generalstaatsanwalt der Grundstein für die Aufhebung der Gewaltenteilung gelegt wurde, schwiegen die Bischöfe", schreibt der Theologe und Germanist Theo Mechtenberg. Kritik habe es lediglich an den Demonstrationen gegen das Vorhaben gegeben. Bei dem Zuzug von Geflüchteten in den Jahren ab 2015 gab es allerdings einen deutlichen Dissens zwischen Partei und Kirche: Die Kirche widersprach dem Kurs der Regierung und setzte sich für die Geflüchteten ein. In der Flüchtlingsfrage gehe es "weder um das Interesse des Staates noch um die nationale Sicherheit, sondern einzig und allein um den Menschen", sagte etwa Gądecki. Die stark durchpolitisierte Kirche im Land musste sich zu dieser Zeit neu orientieren, später fanden beide Parteien wieder zueinander zurück.

Die Kirche und die Politik, dieses Verhältnis ist hunderte Jahre alt. Durch alle historischen Stürme hindurch haben Kirchenverantwortliche es bis heute verstanden, sich Einflusssphären zu erhalten, trotz ganz unterschiedlicher rechtlicher Konstrukte in den europäischen Ländern. Die gesellschaftlichen Umwälzungen der vergangenen Jahrzehnte, europaweit sinkende Mitgliederzahlen und eine Zerstückelung der christlichen Sphäre stellen diese Zugänge infrage und lassen gewachsene Formate und Verbindungen schwächer werden. Bislang konnten die Kirchen ihre besondere Position erhalten. Bislang. Sie werden auch in Zukunft versuchen, ihren Einfluss zu verteidigen.

Von Christoph Paul Hartmann