Interview über Bedeutung religiöser Rituale für Kinder

Religionspädagogin: Familien brauchen Weihnachten kein Zusatzprogramm

Veröffentlicht am 23.12.2022 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Die eigene Familie ist für Kinder immer die erste Bezugsgröße – auch im Hinblick auf religiöses Erleben, sagt Religionspädagogin Heike Helmchen-Menke. Im katholisch.de-Interview spricht sie ebenfalls darüber, warum man die Bescherung auf keinen Fall streichen sollte.

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Religiöse Rituale bieten Kindern die Möglichkeit, etwas über das Sichtbare und Greifbare hinaus zu erleben, sagt Heike Helmchen-Menke. Die Theologin und Religionspädagogin ist Referentin für Elementarpädagogik im Institut für Religionspädagogik der Erzdiözese Freiburg. Im katholisch.de-Interview gibt sie praktische Beispiele für Rituale für den Familienalltag.

Frage: Frau Helmchen-Menke, welche Unterschiede macht es, wenn kirchliche Feste wie Weihnachten dezidiert religiös in der Familie gefeiert werden?

Helmchen-Menke: Aus der Wissenschaft wissen wir, dass Kinder bereits ziemlich früh über sogenannte Spiegelneuronen Dinge, die sie vielleicht vom Verstand her noch nicht einholen können, bereits in der Form miterleben, dass sie sich darauf einschwingen und mitschwingen können. Wenn Kinder ein religiöses Fest wie Weihnachten aber nur als kulturelle Feier wahrnehmen, dann wird sich für ihre religiöse Entwicklung da quasi kein Mehrwert ergeben. Aber wenn das Fest eine Relevanz für die Menschen in der Familie oder in pädagogischen Einrichtungen hat, dann wird das für die Kinder auf dieser Ebene des Einschwingens auch für ihre religiöse Entwicklung etwas bedeuten.

Frage: Reichen dann nicht eigentlich Kindergarten, Schule und vielleicht auch die Kinderkirche aus, in denen das Fest selbst und die Rituale drumherum Thema sind?

Helmchen-Menke: Das ist auf jeden Fall für jedes Kind eine Bereicherung und gerade für diejenigen, die zu Hause keine religiöse Prägung mitbekommen, teilweise auch die einzige Quelle für religiöse Deutungen und religiöses Erleben. Die erste Bezugsgröße für Kinder ist aber immer die Familie. Das, was sie von diesen primären Bezugspersonen erfahren und erleben, ist das, was sie in der Regel ein Leben lang am meisten prägt.

Frage: Was bedeutet das für das familiäre Umfeld? Braucht es zu Hause Wiederholungen der Inhalte aus den Einrichtungen – oder eine Ergänzung?

Helmchen-Menke: Der Aspekt der Wiederholung ist sehr wichtig. Die Kinder singen die meisten Martinslieder, wenn sie auf einem Umzug gewesen sind und Sankt Martin erlebt haben. So ist das bei allen Ritualen: Ritualkompetenz entsteht hauptsächlich durch Wiederholung. Dadurch festigt sich das Erleben und Kinder bekommen Halt, Orientierung und Geborgenheit. Für das familiäre Umfeld bedeutet das, dass man gar nicht genug Dinge wiederholen kann, die Kinder in pädagogischen Einrichtungen erlebt haben. Das kann man nicht delegieren.

Theologin und Religionspädagogin Heike Helmchen-Menke
Bild: ©Institut für Religionpädagogik der Erzdiözese Freiburg

Aus Sicht der Theologin und Religionspädagogin Heike Helmchen-Menke geht es bei religiöser Erziehung darum, die Momente zu nutzen, die sich im Familienalltag ohnehin bieten. Ein religiöses Zusatzprogramm sei nicht erforderlich.

Frage: Wie kann man das Weihnachtsfest auch spirituell in den Familienalltag holen?

Helmchen-Menke: Wichtig ist zunächst, dass Eltern kein Zusatzprogramm absolvieren müssen. Es geht darum, die Momente zu nutzen, die sich ohnehin bieten. Zum einen kann das bedeuten, zum Weihnachtsfest – beispielsweise am Heiligabend – zusammen in einen Gottesdienst zu gehen, damit das Weihnachtsfest nicht religiös sinnentleert ein reines Familienfest bleibt. So wird für alle deutlich: Wir feiern hier mehr als unsere eigene Familie.

Frage: Welche praktischen Rituale und Gesten für den Familienalltag gibt es jenseits des Gottesdienstes?

Helmchen-Menke: In der Vorweihnachtszeit können das zum einen religiöse Adventslieder sein, die gemeinsam in der Familie gesungen werden, damit Kinder den religiösen Sinn dieser Vorbereitungszeit auf Weihnachten besser verstehen. Da haben wir in der Kirche ganz viele beliebte und wertvolle Lieder für Kinder, die die Erwartung auf die Geburt Jesu ausdrücken und die viele Väter und Mütter selbst kennen. Eine andere Möglichkeit ist es, am Adventskranz oder wenn man das Kind abends ins Bett bringt, abschnittsweise aus der biblischen Weihnachtserzählung vorzulesen, beispielsweise aus einer guten Kinderbibel. So können Kinder erfahren, was es mit dem Stern von Betlehem und der Verkündigung der Engel auf sich hat und ihren religiösen Ursprung verstehen. Das sind Dinge, die ohnehin in vielen Familie stattfinden und die religiöse Deutung ist oft in einem Satz gesagt. Man muss also kein religionspädagogisches Zusatzprogramm absolvieren.

Frage: Wie ist das etwa mit der Krippe, die oft auch zur weihnachtlichen Dekoration gehört?

Helmchen-Menke: Da gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, in den Tagen vor Weihnachten eine Krippenfigur besonders einzuführen. Statt also die Krippe mit allen Figuren fertig aufzubauen, kann man zunächst mit den Hirten und ein paar Schäfchen beginnen und Maria und Josef einen Weg gehen lassen. Es ist für Kinder unglaublich eindrücklich, wenn sie diese Reise der unterschiedlichen Handelnden praktisch nachvollziehen können und die Krippe so in den Alltag eingebaut wird.

Frage: Das Weihnachtsfest ist ja schon seit Jahrzehnten sehr auf Konsum ausgerichtet. Sollte man die Bescherung daher vielleicht ganz bleibenlassen, oder kann sie auch ihren Platz haben?

Helmchen-Menke: Auf jeden Fall soll die auch ihren Platz haben. Man kann das kritisieren und sich als Familie die Frage stellen, inwieweit man dem Konsumrausch frönen will. Aber Geschenke ganz zu streichen, wäre schade, da sich die Geschenkekultur daraus entwickelt hat, dass – religiös gedeutet – Gott uns Menschen mit seinem Sohn beschenkt hat und wir aus dieser Freude heraus selbst anderen ein Geschenk machen wollen. Deshalb sollte man die Bescherung aus meiner Sicht auf keinen Fall streichen. Zumal das auch für die Kinder eine Riesenenttäuschung wäre, wenn im gesamten Umfeld Geschenke gemacht werden und sie als einzige keine bekommen.

Warum Krippenspiele keine Theaterstücke sind

Für viele gehört das Krippenspiel fest zu den Weihnachtsfeiertagen. Die Aufführung kann Kindern und Erwachsenen helfen, die Weihnachtsgeschichte näher kennenzulernen, so die Theologin Heike Helmchen-Menke. Dafür sollte man aber ein paar Dinge beachten.

Frage: Wie lassen sich solche Rituale, über die wir gesprochen haben, auch über das Weihnachtsfest hinausspannen?

Helmchen-Menke: Rituale sind für Kinder essenziell. Das sind elementare Vorgänge und Erfahrungen, die ihnen helfen, den Tag, die Woche, den Monat, das Jahr oder das Leben überhaupt zu ordnen. Und religiöse Rituale bieten sich hier besonders an, weil sie den Kindern immer die Möglichkeit geben, etwas über das Sichtbare, das Greifbare hinaus zu erleben. Auch hier müssen Familien kein Sonderprogramm absolvieren. Ein ganz einfaches Ritual, das viele Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern ganz regelmäßig praktiziert haben, ist beispielsweise, das eigene Kind zu segnen, bevor es aus dem Haus geht. Mutter, Vater oder Großeltern zeichnen dem Kind dann einfach ein Kreuzzeichen auf die Stirn und sagen beispielsweise "Sei behütet", oder "Gott behüte dich, komm gesund wieder nach Hause". So wird auch für das Kind deutlich: Auch meine Mama und mein Papa verlassen sich noch auf etwas und sind für sich selbst nicht der allerletzte Halt im Leben. Viele Kinder erbitten so ein Zeichen sogar auch später noch über einen langen Zeitraum. Andere Rituale religiöser Natur sind zum Beispiel das abendliche Gebet am Bett oder das Beten zu den gemeinsamen Mahlzeiten.

Was wir in den vergangenen Jahren verstärkt beobachten, aber eigentlich schon immer kannten, ist das Theologisieren oder Philosophieren mit Kindern über Fragen nach dem, was nicht messbar oder objektiv wahr ist. Das lässt sich auch in Alltagshandlungen einbauen, die sowieso zusammen mit Kindern gemacht werden, etwa beim Kochen für das Abendessen. Die allermeisten Kinder gehen mit einer starken Intensität und einer unheimlichen Kreativität an solche Fragen, die über das Sichtbare und das Greifbare hinausgehen.

Frage: Viele Eltern fühlen sich vielleicht unsicher oder wissen nicht, wie sie mit dem Thema religiöse Erziehung umgehen sollen. Was sollten sie denn tun, wenn sie selbst nicht weiterwissen – oder vielleicht auch zweifeln?

Helmchen-Menke: Zweifel gehören zum religiösen Denken und zum Glauben immer dazu. Es ist auch für die Kinder wesentlich, zu erleben, dass Eltern, wenn sie über den Glauben und Religion sprechen, nicht mit einem Brustton der Überzeugung behaupten, sie wüssten alles ganz genau, sondern dass sie zusammen mit dem Kind auf die Suche gehen und eine Antwort finden.

Frage: Die christliche Erziehung von Kindern scheitert wahrscheinlich oft nicht zuletzt daran, dass Spiritualität keinen Platz hat oder aufgesetzt wirkt. Was kann man tun, um zu verhindern, dass Kinder da überfrachtet werden und man vielleicht auch unauthentisch wirkt?

Helmchen-Menke: Authentizität ist ein wichtiges Stichwort. Das heißt ja, dass ich nicht etwas mache, weil ich denke, dass das gut für das Kind ist, sondern ich mache etwas, weil ich mich auch selbst damit auseinandersetze. Eltern können sich zum Beispiel fragen, was sie selbst in ihrer Kindheit berührt, beeindruckt und ihr religiöses Denken beeinflusst hat. Das ganze Jahr über haben wir religiöse Feste, aber wir müssen nicht jedes Mal alles, was man machen kann, auch machen. Es ist viel wichtiger zu überlegen, was mir persönlich wichtig war und was mir jetzt wichtig sein kann. Wenn die Eltern etwas von biblischen Geschichten weitergeben, weil es die eigene Lebenssituation betrifft, dann wird es für die Kinder niemals langweilig und wirkt auch nicht aufgesetzt.

Von Christoph Brüwer