Kreuz-Debatte: Ein Kruzifix ist immer anstößig
Während auf der Zugspitze soeben ein zweites Kreuz installiert wird, damit die Bergtouristen mehr Platz haben, um schöne Gipfelfotos zu machen, ist auf Anweisung des Bayrischen Verwaltungsgerichtshof das christliche Symbol des Kreuzes im Eingangsbereich eines Gymnasiums entfernt worden. Beide Vorgänge sind in ihrer Gegenläufigkeit denkwürdig. Hier die Markierung des Berggipfels mit einem Gold eingefärbten zweiten Kreuz zu touristischen Zwecken – dort die Abhängung im Namen der negativen Religionsfreiheit. Allemal Anlass, über das Symbol des Kreuzes im öffentlichen Raum nachzudenken.
Beginnen wir mit den beiden Schülerinnen, die gegen das Kreuz in der Eingangshalle ihrer Schule Widerspruch eingelegt und geklagt haben. Sie haben etwas registriert, was in der allgemeinen Gewöhnung an religiöse Symbole oft unregistriert bleibt: Das Kruzifix, das nicht nur zwei Balken, sondern auch den Körper des Gekreuzigten zeigt, ist anstößig. Es zeigt einen Unschuldigen, der brutal hingerichtet – und zugleich eben auch als Retter und Heiland verehrt und angebetet wird. Schon das Spottkruzifix am Palatin hat diese Verstörung thematisiert, als es einen Gekreuzigten mit Eselskopf zeigte, der von einem Schüler mit erhobener Hand angebetet wird. Eine antike Form des Mobbings, die vom Skandal des Kreuzes intuitiv mehr erfasst hat als manche Apologeten heute, da sie den am Schandpfahl Hingerichteten mit Gott in Zusammenhang bringt. Was für ein verstörendes Paradox!
Das österliche Symbol des Lebens
Da sind zweitens die Verteidiger des Kreuzes, die auf die geschichtlich-kulturelle Bedeutung des Kreuzes für Bayern hingewiesen haben. Gewiss ist das Land Bayern durch das Christentum entscheidend geprägt worden. Das zu leugnen wäre geschichtsvergessen. Manche Politiker haben darüber hinaus das christliche Symbol der Toleranz und Liebe bemüht, das in der öffentlichen Memorialkultur nicht verschwinden dürfe. Das ist nicht falsch, spart aber die theologische Anstößigkeit des Kreuzes aus, die viele Facetten hat: Das Kruzifix macht öffentlich, was gerne klein gehalten wird. Es stellt das Leiden Unschuldiger und Entrechteter aus und ruft zu Mitleid und Solidarität mit den Benachteiligten auf. So steht es gegen kalte Gleichgültigkeit und satte Leidunempfindlichkeit. Vor dem Kreuz endet die Bagatellisierung des Bösen. Es ist Spiegel der Fehlbarkeit und lädt zu einer Kultur der Vergebung ein. Es steht damit gegen die um sich greifende Rechthaberei, die andere niedermacht, um selbst besser dazustehen. Das Kreuz deckt den Zynismus politischer Macht auf, die andere an den Rand schiebt und manchmal nicht davor zurückschreckt, über Leichen zu gehen, um den Erhalt der Macht zu sichern. Aus gläubiger Sicht ist das Kruzifix das österliche Symbol des Lebens, das an die Auferweckung des Gekreuzigten erinnert. Das Zeichen der Hoffnung und des Heils spannt einen Verheißungshorizont auf, der auf die Fülle des Lebens zielt und weder von Biotechnologie noch Transhumanismus je erreicht werden kann.
"Es braucht gläubige Menschen, die werbend für ihren Glauben an die rettende und versöhnende Kraft des Kreuzes einstehen", schreibt der Wiener Dogmatik-Professor Jan-Heiner Tück. "Gerade in Zeiten wachsender religiöser Indifferenz und anhaltender Säkularisierung."
Da sind drittens die Richter des Bayrischen Verwaltungsgerichts, die mit Verweis auf die negative Religionsfreiheit den beiden Klägerinnen Recht gegeben haben. Ihr Urteil ist zu respektieren, provoziert aber Rückfragen: Wird hier die negative Religionsfreiheit – das Recht, kein religiöses Bekenntnis zu haben – nicht über die positive Religionsfreiheit gestellt – das Recht, seinem religiösen Bekenntnis öffentlichen Ausdruck zu verleihen? Hat das Urteil nicht ein laizistisches Gefälle, wenn es Konflikte um religiöse Symbole durch deren Verbannung aus dem öffentlichen Raum zu lösen versucht? Läuft das Urteil nicht auf eine "Privilegierung der Religionslosen" hinaus, wenn es einer kleinen Minorität gegen die Mehrheitskultur Recht gibt?
Schließlich gibt es die Schülerinnen und Schüler, die Lehrer und Eltern, die sich mehr oder weniger zum christlichen Glauben bekennen. Von ihnen hat man – zumindest medial – nichts gehört. Ein Schweigen, das spricht. Mündige Laien sollen dem Evangelium Gesicht und Stimme geben. Das hat das Zweite Vatikanische Konzil mit dem "gemeinsamen Priestertum der Gläubigen" vor allem gemeint. Es braucht gläubige Menschen, die werbend für ihren Glauben an die rettende und versöhnende Kraft des Kreuzes einstehen. Gerade in Zeiten wachsender religiöser Indifferenz und anhaltender Säkularisierung. Wenn sie kleinlaut bleiben, sich wegducken oder schweigen, werden Kruzifixe und Kreuze im öffentlichen Raum nach und nach verschwinden. Nicht nur in Bayern.
Buchtipp
Tück, Jan-Heiner: Crux. Über die Anstößigkeit des Kreuzes. Verlag Herder 2023, 376 Seiten. ISBN: 978-3-451-39197-2
