64 Euro für ein Kilo Zucker, 18 Euro für ein Kilo Tomaten

Caritas international: Leid in Gaza kaum in Worte zu fassen

Veröffentlicht am 23.07.2025 um 14:02 Uhr – Von Gabriele Höfling – Lesedauer: 

Bonn/Freiburg ‐ 2,1 Millionen Menschen in Gaza leiden akut unter Hunger – und das, obwohl Tonnen an Hilfsgütern nur wenige Kilometer entfernt lagern. Oliver Müller, Leiter von Caritas international, übt im Interview mit katholisch.de scharfe Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung.

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Fast täglich gibt es Berichte von Toten an Essensausgabestellen, Bilder von abgemagerten Kindern sorgen für Entsetzen: Angesichts der dramatischen Lage der Menschen im Gazastreifen schlagen Hilfsorganisationen Alarm. Im Interview mit katholisch.de schildert Oliver Müller, der Leiter des Hilfswerks Caritas international, seine Erfahrungen.

Frage: Herr Müller, kürzlich sind bei einem Militärangriff auf die katholische Gemeinde Heilige Familie in Gaza mehrere Menschen getötet worden. Unter ihnen war auch eine Frau, die in einer Einrichtung der Caritas auf dem Kirchengelände Schutz gesucht hatte. Was wissen Sie über die Lage der Menschen vor Ort?

Müller: Wir stehen in engem Kontakt mit Caritas Jerusalem. Der Vorfall an der Kirche ist kein Einzelfall: Menschen, die Schutz suchten, wurden von der israelischen Armee attackiert – wie an anderen Orten leider auch. Der Vorfall bringt die Tragik auf den Punkt: In Gaza gibt es keinen sicheren Ort mehr - keinen. Dabei ist es eigentlich unvorstellbar, dass eine Kirche Ziel von Angriffen wird. Ob es ein Versehen war, lässt sich schwer sagen. Papst Leo XIV. und der lateinische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa, haben Aufklärung gefordert.

Frage: Was hören Sie allgemein über die Lage im Gazastreifen?

Müller: Es gibt kaum Worte, das zu beschreiben. Die Situation ist katastrophal. 2,1 Millionen Menschen leiden akut unter Hunger. Krankheiten breiten sich aus, weil Menschen verunreinigtes Wasser trinken müssen und das Gesundheitssystem nicht mehr funktioniert. Menschen sind entkräftet, abgemagert und völlig verzweifelt. Eine Mitarbeiterin hat ein fünf Monate altes Baby. Sie musste inzwischen fünfmal ihren Wohnort wechseln. Aufgrund ihrer eigenen gesundheitlichen Situation kann sie ihr Baby nicht mehr stillen. Lebensmittel, geschweige denn Milchpulver für Babys, sind überteuert. Ein 25-Kilo-Mehlsack wird für umgerechnet 765 Euro verkauft, ein Kilo Zucker kostet 64 Euro, ein Kilo Tomaten 18 Euro. Aber selbst wenn jemand in der Lage wäre, diese Preise zu bezahlen, gibt es kaum noch ein Angebot. Fischern ist es momentan von der israelischen Armee verboten, auf dem Meer zu fischen. Manche tun es doch und riskieren erschossen zu werden, weil sie nicht wissen, was ihre Familien sonst essen sollen.  

Bild: ©Caritas international (Archivbild)

Oliver Müller leitet Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbands.

Frage: Ist die Caritas in der Lage, Hilfe zu leisten?

Müller: Wir arbeiten mit drei lokalen Projektpartnern zusammen, und keinem davon erlauben die israelischen Behörden momentan, Lebensmittel zu den Menschen zu bringen. Die amerikanische Caritas hat 350 Trucks, die bereitstehen, um sofort loszufahren. Sie haben Lebensmittel, Hygieneartikel, Zelte und Planen geladen. Weitere rund 140 Tonnen Nahrungsmittel des Welternährungsprogramms stehen an der Grenze, wenige Kilometer entfernt von den hungernden Menschen. Die israelische Regierung lässt sie nicht hinein. Inzwischen sind nur noch zwölf Prozent des Landes für die Bevölkerung zugänglich. Der Rest ist Evakuierungszone. Auf einer Fläche, die gerade mal so groß ist wie die Stadt Konstanz am Bodensee mit 85.000 Einwohnern, müssen in Gaza 1,9 Millionen Menschen unterkommen. Das ist menschenunwürdig.

Frage: Israel und die USA haben die "Gaza Humanitarian Foundation" gegründet, durch die die Hilfswege der etablierten Hilfswerke umgangen oder erschwert werden. Als Begründung wird angeführt, dass die Terrororganisation Hamas große Teile der Hilfslieferungen in den Gazastreifen abfange. Was sind da Ihre Erfahrungen?

Müller: Der Vorwurf hat zu keinem Zeitpunkt zugetroffen. Wir und andere Hilfsorganisationen wie Unicef, Diakonie und Rotes Kreuz konnten stets gewährleisten, dass die Hilfe bei den Bedürftigen ankommt. Wir hatten dafür bewährte Wege und Partner. Skandalös ist, dass mit der "Gaza Humanitarian Foundation" Hilfe nun politisiert und zum Instrument der Vertreibung wird. Wer zu den wenigen Verteilpunkten nicht hinkommt, hat keine Möglichkeit, Hilfe zu erlangen. Mindestens 1.000 Menschen sind in den vergangenen Wochen bei dem Versuch, Lebensmittel zu ergattern, erschossen worden, auch durch das israelische Militär. Die Bevölkerung ist derart ausgehungert und verzweifelt, dass eine geordnete Verteilung kaum mehr möglich ist. Daran sind aber nicht die Hungernden schuld, sondern die israelische Regierung, die Lebensmittel künstlich verknappt. Diese Monopolisierung der humanitären Hilfe ist weder angemessen noch erfolgreich. Für die etablierten Hilfsorganisationen gibt es derweil immer neue bürokratische Hürden. Auch wer schon lange in Gaza tätig ist, muss sich plötzlich neu registrieren. Das ist nicht nachvollziehbar.

Frage: Die israelische Regierung plant, im Süden des Gazastreifens eine "humanitäre Stadt" für hunderttausende Menschen einzurichten. Sie kritisieren den Begriff "humanitär". Warum sind die Pläne aus Ihrer Sicht nicht humanitär?

Müller: Es eine Pervertierung des Begriffs, hier von "humanitär" zu sprechen. Menschen sollen gegen ihren Willen auf engstem Raum zusammengepfercht werden in lagerähnlichen Verhältnissen, in denen sie auf fremde Versorgung angewiesen sind. Wer einmal einen Schritt in diese ‚Stadt‘ gesetzt hat, dem wird es nicht erlaubt sein, sie wieder zu verlassen. Dieser Plan darf nie umgesetzt werden.

Frage: Israel geht wegen der grausamen Angriffe der Hamas am 7. Oktober 2023 im Gazastreifen vor. Zunehmend gerät das Land aber in die Kritik, die Reaktion sei nicht mehr verhältnismäßig. Vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) läuft ein Verfahren mit dem Vorwurf des Völkermords. Der Armee wird vorgeworden, das humanitäre Völkerrecht zu brechen. Wie beurteilen Sie das Vorgehen?

Müller: Es ist ziemlich klar, dass das humanitäre Völkerrecht nicht respektiert wird. Papst Leo XIV. hat von ‚barbarischen Kriegshandlungen‘ gesprochen, die sofort eingestellt werden müssen. Vor allem muss das Verbot der Kollektivstrafe respektiert werden. Es steht außer Frage, dass im Gazastreifen auch Terroristen der Hamas leben. Aber dennoch dürfen nicht unzählige Menschen, die keine Verbrechen begangen haben, kollektiv dafür bestraft werden, was die Anhänger der Hamas getan haben. Die leidende Bevölkerung besteht zu großen Teilen aus Frauen, Kindern und Jugendlichen. Sie werden in diese Not hineingezwungen. Mit welchem Begriff das Geschehen zu bewerten ist, das ist die Aufgabe von Gerichten.

„Ein 25-Kilo-Mehlsack wird für umgerechnet 765 Euro verkauft, ein Kilo Zucker kostet 64 Euro, ein Kilo Tomaten 18 Euro. Aber selbst wenn jemand in der Lage wäre, diese Preise zu bezahlen, gibt es kaum noch ein Angebot.“

—  Zitat: Oliver Müller zur Lage in Gaza

Frage: Wenn Sie auf die gesellschaftliche Diskussion in Deutschland blicken: Trauen wir uns angesichts unserer Geschichte vielleicht zu wenig, Kritik am Vorgehen der israelischen Armee und Regierung zu üben?

Müller: In Deutschland gibt es zurecht eine besondere Sensibilität gegenüber Israel. Die Bestürzung nach dem Terrorangriff vom 7.Oktober war groß. Gleichzeitig nehme ich jetzt wahr, dass die täglichen Nachrichtenbilder viele Leute hier schon sehr berühren: Verzweifelte Menschen, die in der Warteschlange zusammenbrechen und wieder nichts bekommen, das Recht des Stärkeren, das sich an Verteilstellen durchsetzt. Das empfinden viele als großes Unrecht und ich denke auch, dass man das kritisieren darf.

Frage: Was sind Ihre Forderungen, damit die Menschen in Gaza und Israel langfristig in Frieden leben können?

Müller: Wir fordern, dass die Bundesregierung noch mehr Druck auf die israelische Regierung ausübt, Hilfe zuzulassen. Kurzfristig muss es einen Waffenstillstand geben, die Hamas muss die verbliebenen Geiseln freilassen, die Grenzen geöffnet und die Versorgung der Menschen möglich gemacht werden. Damit könnte man heute schon anfangen. Dann braucht es einen politischen Prozess, der den Weg ebnet, damit die Hamas in Gaza keine Rolle mehr spielt und die Menschen in ihre Heimat zurückkehren können – auch wenn das angesichts der immensen Zerstörung schwierig wird. Mag es jetzt auch aussichtslos erscheinen: Es muss eine dauerhafte Befriedung der Verhältnisse geben. Das Aushungern der Bevölkerung in Gaza schürt nur weiteren Hass und weitere Gewalt.

Von Gabriele Höfling