Erkrankter AIDS-Seelsorger Petrus Ceelen blickt auf sein Leben zurück

Theologe: Bis heute schäme ich mich für meine Kirche

Veröffentlicht am 21.08.2023 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Bonn ‐ Ursprünglich wollte er Priester werden. Doch Petrus Ceelen wurde der erste Pastoralreferent in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Im Interview mit katholisch.de blickt der in Belgien geborene Theologe und geistliche Schriftsteller auf sein Leben zurück. Für manches schämt er sich bis heute.

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Petrus Ceelen war zu Beginn der 1970er Jahren der erste Pastoralreferent in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Später wurde der studierte Theologe aus Belgien auch der erste AIDS-Seelsorger in Deutschland. Diese Arbeit mit Menschen, die von Kirche und Gesellschaft ausgegrenzt wurden, prägt ihn bis heute. Erst vor kurzem ist der 80-jährige Seelsorger selbst schwer erkrankt. Wie er damit umgeht und was ihm heute Kraft gibt, davon erzählt er im Interview mit katholisch.de. 

Frage: Herr Ceelen, Sie waren 1971 der erste Pastoralreferent in Rottenburg-Stuttgart. Wie ist es dazu gekommen?

Ceelen: Ja, ich war der Allererste. Den Beruf Pastoralreferent gab es damals noch gar nicht. Ich habe Theologie in Mainz studiert und dann in Berlin als Sozialarbeiter im Flüchtlingslager Marienfelde gearbeitet. Nebenher habe ich Religion unterrichtet. Meine Frau und ich wohnten damals in einem kleinen Zimmer der Caritas. Wir hatten quasi nichts. Es war frustrierend. Eines Tages bekam ich Besuch von einem Studienfreund. Der hat mir erzählt, dass er an der Tübinger Universität einen Aushang gesehen hat, dass ein Pfarrer einen Laientheologen zur Unterstützung in der Gemeinde sucht. Dann habe ich mich dort beworben und wurde genommen. Der Pfarrer hat mich sehr gefördert und hat mich alles machen lassen. Ich habe Wortgottesdienste gehalten, ich habe getauft, gepredigt, beerdigt. Und beim Predigeraustausch um den Hohenasperg habe ich sonntags in fünf Gemeinden den Gottesdienst gehalten. "Schade, dass Sie nicht geweiht werden dürfen", haben mir viele Leute in der Gemeinde gesagt. Und die Evangelischen haben mich immer mit "Herr Pfarrer" begrüßt.

Frage: Hätten Sie denn ein Priester sein wollen?

Ceelen: Ja, als Kind habe ich mich davon angezogen gefühlt. Ich bin in Belgien aufgewachsen, da war es normal katholisch zu sein. Ich war Ministrant und war oft zweimal am Tag in der Messe und öfters im Monat bei der Beichte. Ich habe zu den Pfarrern am Altar aufgeschaut. So einer wollte ich auch werden. Dabei wurde ich von Priestern unverschämt katholisch verzogen.

Frage: Wie meinen Sie denn mit dem "unverschämt katholisch verzogen"?

Ceelen: Ich bin damals nach der Grundschule ins Kleine Seminar gekommen. Das war ein Internat und für die Jungs bestimmt, die später einmal Priester werden wollen. Dementsprechend wurde auch auf uns von den Kaplänen und Pfarrern Druck ausgeübt. Mir wurde auch immer eingeredet, dass ich doch so gut und brav wäre und doch Priester werden solle. Ich fühlte mich aber dort wie im Knast und hatte furchtbar Heimweh. Der Priester-Aufseher schob jeden Abend den Vorhang meiner "Chambrette" beiseite, um nachzusehen, ob ich die Hände über der Decke halte und nicht schwer sündige. "Hände über der Decke" auch im Winter. Ich hatte im Seminar immer das Gefühl gehabt, dass Sex mit Schmutz und Sünde gleichgesetzt wurde. Aber Missbrauch habe ich dort zum Glück keinen erlebt. Aber manches war schon höchst merkwürdig. So hat ein Professor aus dem Seminar mich in den Ferien für eine Woche zu sich nach Hause geholt. Heute denke ich mir: Auf welchem Glatteis war ich damals da eigentlich unterwegs?

Frage: Die kirchliche Sexualmoral haben Sie als Glatteis empfunden?

Ceelen: In den 1950er- und 1960er Jahren wurde die Sexualität im Allgemeinen und die Homosexualität im Speziellen verteufelt. Ich erinnere mich noch, dass ein Professor uns im Seminar gesagt hat, dass das Küssen auf den Mund eine schwere Sünde sei. Mit solchen schrecklichen Sätzen bin ich groß geworden! Wenn dir als junger Mensch jahrelang eingebrannt wurde, dass alles was Spaß macht, Sünde ist, hast du es als Erwachsener schwer, Sexualität unbeschwert zu genießen. Als AIDS-Seelsorger hatte ich besonders viel mit Schwulen zu tun. Gerade bei diesen Menschen habe ich mich am meisten dafür geschämt, dass ich katholisch bin.

Offene Hände mit Aidsschleifen darin.
Bild: ©michaeljung/Fotolia.com

Manche haben mir gesagt: "Muss ich erst AIDS haben, um von deiner Kirche angenommen zu werden!?" Oder: "Ihr segnet uns doch erst, wenn wir im Sarg liegen." Solche Sätze haben mir als Mann der Kirche sehr weh getan, sagt Petrus Ceelen aus seiner Zeit als AIDS-Seelsorger in Stuttgart.

Frage: Warum?

Ceelen: Weil meine katholische Kirche Homosexuellen so viel Leid zugefügt hat. Die Menschen wurden so verurteilt und abgewertet. Manche haben mir gesagt: "Muss ich erst AIDS haben, um von deiner Kirche angenommen zu werden!?" Oder: "Ihr segnet uns doch erst, wenn wir im Sarg liegen." Solche Sätze haben mir als Mann der Kirche sehr weh getan. Beim Gottesdienst am Welt-AIDS-Tag habe ich mich mehrmals bei Schwulen und Lesben für das zugefügte Leid entschuldigt, auch wenn es unentschuldbar war. Immer wieder haben mir Betroffene gesagt: "Petrus, du bist schon in Ordnung. Aber für deine Kirche sind wir nur Sünder." Ich fühlte mich innerlich so zerrissen und wollte mehr als nur einmal aus der Kirche austreten, weil ich all diese ganzen Verletzungen mitbekommen haben.

Frage: Trotzdem sind Sie in der Kirche geblieben und nicht ausgetreten?

Ceelen: Ja, aber innerlich bin ich schon lange aus dieser Kirche ausgetreten. Und dass ich offiziell noch in der Kirche drin bin, bereitet mir bis heute ein schlechtes Gewissen. Wie oft hätte ich mir gewünscht, dass die Kirche so wäre wie mein Namenspatron Petrus. Er war einer, der zu den Leuten hinging, sich um sie kümmerte. Mir war mein Namenspatron immer sehr nahe. Vor meiner Zeit als AIDS-Seelsorger war ich als Gefängnisseelsorger tätig. Immer, wenn ich mit dem großen Schlüssel eine Zellentür aufgesperrt habe, um einen Insassen zu besuchen, dachte ich an den heiligen Petrus mit dem Schlüssel in der Hand. So einer wollte ich auch sein für die anderen. Ich habe als Seelsorger erlebt, wie gut es den Menschen getan hat, dass sie ihren seelischen Müll bei mir abladen konnten. Da zu sein für Menschen, die mich brauchen. Das hat für mich immer Sinn gemacht. Ich sage, die Menschen mit den leeren Händen, die haben mir am meisten gegeben. Ich bin erst durch die Gefangenen, Obdachlosen, Drogenabhängigen und AIDS-Kranken der Mensch geworden, der ich heute bin. Dafür bin ich dankbar.

Frage: Sie sind nun vor einiger Zeit selbst an Krebs erkrankt. Wie geht es Ihnen damit?

Ceelen: Die Diagnose Lungenkrebs war ein Schock für mich. Meine Frau ist vor gut zwei Jahren genau daran gestorben. Ich frage mich schon, warum ich denselben Krebs habe wie sie. Vielleicht ist es Liebe. Nun habe ich mich mit der Erkrankung abgefunden. Ich bin über 80 Jahre alt. Ich kann mich auf das, was vor mir liegt, innerlich vorbereiten. Die meisten Menschen, die ich als AIDS-Seelsorger beerdigt habe, waren nicht einmal halb so alt wie ich. Wie oft stand ich am Sarg oder saß am Bett von einem Menschen, der sich gefragt hat: "Warum lässt mich ein Gott, der mich so liebt, gleichzeitig auch so leiden?" Das ist der wunde Punkt. Das ist der Grund, warum viele Menschen nicht mehr an den "lieben" Gott glauben können.

Frage: Arbeiten Sie noch als Seelsorger?

Ceelen: Ich bin schon seit vielen Jahren in Rente, aber ich werde immer noch für Beerdigungen angefragt. Und das mache ich gerne. Ich begleite auch Menschen beim Trauern oder beim Sterben. Ich weine manchmal mit, wenn Menschen mir ihre Leidensgeschichten erzählen. Ich bin alles andere als ein Profi, der auf Distanz bleibt. Ich habe gerade fünf Beerdigungen in zwei Wochen. Am Freitag habe ich in Münzenberg die Gedenkfeier für Pfarrer Josef Rüssmann gehalten, den langjährigen Vorsitzenden der Bundeskonferenz der Katholischen Gefängnisseelsorge. Nächste Woche ist der Abschied von einem jungen Mann, der sich das Leben genommen hat. Viele Beerdigungen sind eine Herausforderung. Oft weiß ich nicht, was ich sagen soll. Da stehe ich am Grab der Mutter von drei Kindern, die den Herrgott jeden Abend auf den Knien darum gebeten haben, dass er ihre Mutti nicht sterben lässt. Dass die Mutti nun bei Gott sei, ist doch alles andere als ein Trost.

Frage: Wie stellen Sie sich das vor, was nach dem Tod kommt?

Ceelen: Ich habe zwar Angst vor dem Weg bis zu meinem Tod. Aber ich bin neugierig, wissbegierig, wie das dann sein wird. So wie ein Kind, das noch ganz offen auf eine neue Situation zugeht. Ich bin als Ministrant so oft mit dem Pfarrer durch die Straßen gelaufen, um den Sterbenden und Kranken die Kommunion zu bringen. Ich habe schon als junger Mensch gelernt, dass der Tod zum Leben dazugehört. Ich glaube, dass mit dem Tod nicht alles aus ist. Ich schreibe gerade mein letztes Buch. Darin beschreibe ich, wie schön es wäre, wenn ich meine Frau nach dem Tod wiedersehen würde. Wenn ich mir das ausmale, dann kommen mir die Tränen. Ich weiß nicht, ob ich im September noch einmal in meine Heimat nach Belgien kommen werde. Jeden Tag lebe ich so, als wäre es mein letzter. Gleichzeitig möchte ich so leben, als hätte ich noch hundert Jahre. So lebe ich richtig gelassen, und lasse "es" auf mich zukommen.

Von Madeleine Spendier

Zur Person

Der Theologe und Schriftsteller geistlicher Bücher Petrus Ceelen wurde 1943 in Belgien geboren und ist am 10. März 2024, einige Monate nach dem oben geführten Interview, verstorben. Ceelen studierte katholische Theologie in Belgien und Mainz. Von 1975 bis 1991 war er Gefängnisseelsorger im Vollzugskrankenhaus Hohenasperg. Von 1992 bis 2005 war er als Seelsorger für HIV-Infizierte und AIDS-Kranke in Stuttgart. Dort gründete der Laientheologe den Verein "Die Brücke" 1994 in Stuttgart. Ceelen ist verwitwet und hat zwei Töchter. Seit seiner Krebsdiagnose vor zweieinhalb Jahren hat Ceelen drei Bücher geschrieben, zuletzt: "Was ich Euch noch sagen wollte“ Dignity Press. Das Buch kostet 23,95 Euro.