100 Tage Leo XIV.: Ein Papst zwischen Erwartung und Zurückhaltung
Nach 100 Tagen im Amt ist es spürbar ruhiger geworden um das erste US-amerikanische Oberhaupt der katholischen Kirche. Leo XIV. trat die Nachfolge nach einem nahezu "stürmischen" Pontifikat von Franziskus an – einer Amtszeit, die wie kaum eine andere die Aufmerksamkeit kirchenferner Menschen und der internationalen Presse fesselte. Franziskus suchte die Nähe, scheute keine Konflikte, mied keine Fettnäpfchen und warf, fast jesuanisch, so manche Tische sinnbildlich um. Er verabschiedete sich von vielen päpstlichen Traditionen, etwa Statussymbolen oder Insignien. Diese Haltung wurde zu seinem Markenzeichen und sorgte weltweit für Schlagzeilen – von diplomatischen Erschütterungen ganz zu schweigen. Es schien, als sei ein Wort aus der Offenbarung sein Programm: "Siehe, ich mache alles neu."
Ganz anders Leo XIV. Seltene Abweichungen von seinen sorgfältig vorbereiteten Ansprachen und Predigten bleiben meist unauffällig, Wort für Wort liest er seine Reden vom Manuskript ab, das er fest in den Händen hält. Auf der großen Bühne wirkt er entsprechend eher schüchtern. Auch das jüngste Weltjugendtreffen im Heiligen Jahr mit rund einer Million junger Menschen im Vatikan zeigte, dass es wohl noch dauern wird, bis Leo bei solchen Auftritten improvisiert und sich ein Stück weit von der Sicherheit des Manuskripts löst. Zumindest müssen Mitarbeiter im Vatikan nicht in Deckung gehen, wenn er das Mikrofon ergreift.
(K)ein Popstar-Papst?
Franziskus hingegen verzichtete häufig auf vorbereitete Manuskripte. Exemplarisch dafür gilt der Weltjugendtag in Lissabon, als er mit seinem inzwischen legendären "Todos, todos, todos!" – dem Ruf nach einer offeneren Kirche für alle – sein Programm wie ein Popstar-Papst in die Geschichte schrieb. Doch seine Spontaneität brachte ihm nicht nur Zustimmung, sondern auch Kritik ein, und zwar nicht nur aus konservativen Kreisen. Beobachter zeichneten das Bild eines Papstes, der Türen öffnete, selbst aber nicht hindurchging – etwa bei der Frage der "viri probati" in der Amazonassynode, beim Diakonat der Frau während der Weltsynode oder bei der Segnung homosexueller Paare. Zwar markierte das Dokument "Fiducia supplicans" des Glaubensdikasteriums kurz vor Weihnachten 2023 einen Schritt nach vorn, doch vielen ging dieser Schritt nicht weit genug. Anderen wiederum war er bereits zu viel, sodass Glaubenspräfekt Kardinal Víctor Manuel Fernández innerkirchlich und ökumenisch vermitteln musste.
Wie Leo XIV. künftig mit solchen "heißen Eisen" umgehen wird, ist offen. In die Karten lässt er sich bislang nicht blicken. Dass die von Franziskus begonnene Weltsynode ihren Kurs beibehält, ist jedoch ein klares Signal: Synodalität bleibt auch für ihn ein zentrales Thema. Das Synodensekretariat unter Leitung von Kardinal Mario Grech hatte in einem Offenen Brief um die Fortsetzung des Prozesses geworben – kurz darauf besuchte der Papst die Behörde und gab grünes Licht für den weiteren Weg, wobei auch kritische Stimmen Gehör finden sollen. Leo betonte in diesem Zusammenhang, dass das Erbe von Papst Franziskus darin bestünde, dass "Synodalität ein Stil ist, eine Haltung, die uns hilft, Kirche zu sein und authentische Erfahrungen von Teilhabe und Gemeinschaft zu fördern". Doch neben Ermutigungen bedarf es nach der bisherigen Schonzeit schon bald "kantige Entscheidungen" des Papstes, betonte zuletzt der Wiener Theologe Paul Zulehner – vor allem im Blick auf die Rolle der Frau.
Zum Abschluss des Weltjugendtreffens in Rom feierte Papst Leo XIV. mit mehr als einer Million Menschen Gottesdienst.
Doch für viele Beobachter ist klar: Papst und Gläubige befinden sich noch immer in einer Kennenlernphase. Bislang hat der US-Amerikaner mit seiner ruhigen Art weder inner- noch außerkirchlich Gegner auf den Plan gerufen. Vielmehr scheint er bemüht, traditionsbewusste Kreise zu beruhigen und Erwartungen vorerst flachzuhalten. Diese Strategie spiegelt sich auch im äußeren Erscheinungsbild. Der 69-Jährige trägt wieder die Mozetta, den roten Schulterkragen aus Seide, lässt den Ringkuss zu und wird – anders als Franziskus – in die für Päpste vorgesehene Wohnung im Apostolischen Palast einziehen. Den römischen Hochsommer verbringt er wie frühere Päpste in Castel Gandolfo, wo er sich nun ein zweites Mal bis zum 19. August zurückziehen wird. Auf dem Programm stehen dort auch Begegnungen etwa mit Bedürftigen.
Richtige Töne
Auch außenpolitisch meldete sich Leo XIV. zu Wort. Der Papst bot der Ukraine den Vatikan erneut als Ort möglicher Friedensverhandlungen an und sprach bei Treffen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj von der "dringenden Notwendigkeit eines gerechten und dauerhaften Friedens". Beobachter werten dies als klares Zeichen der Nähe zu Kiew, während Franziskus lange einen neutraleren Kurs verfolgt hatte. Ebenso deutlich äußerte sich Leo zu Gaza, als er sagte, die Welt habe den Krieg satt. Unter dem Beifall von Tausenden Menschen vor seiner Sommerresidenz in Castel Gandolfo forderte er Ende Juli ein sofortiges Ende der "Barbarei des Krieges". Die internationale Gemeinschaft rief er auf, das humanitäre Völkerrecht zu achten, die Zivilbevölkerung zu schützen und das Verbot von Kollektivbestrafungen einzuhalten.
Auch bei seiner ersten Audienz mit Medienvertretern kurz nach dem Konklave traf Leo den richtigen Ton, was mit Lachen und Applaus belohnt wurde: "Man sagt, wenn die Leute am Anfang applaudieren, bedeutet das nicht viel. Entscheidend ist, ob sie am Ende noch wach sind." Ob Kirchenferne wie Kirchenvolk und die internationale Presse dies auch künftig sein werden, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch, dass sie mit Leo keinen Papst haben, der wie sein Vorgänger weltweit Schlagzeilen produziert – zumindest nicht bis zu diesem Zeitpunkt. Bisher gab es weder ein großes Interview noch eine Pressekonferenz; eine Enzyklika ist zwar in Vorbereitung, doch über mögliche Schwerpunkte lässt sich bislang nur spekulieren. Ob es künftig auch die von Franziskus' etablierten fliegenden Pressekonferenzen im Flugzeug geben wird, werden die ersten Reisen zeigen.
Seltene Abweichungen von seinen sorgfältig vorbereiteten Ansprachen und Predigten bleiben meist unauffällig, Wort für Wort liest er seine Reden vom Manuskript ab, das er fest in den Händen hält. Auf der großen Bühne wirkt Leo XIV. entsprechend eher schüchtern.
Neu ist die Begegnung mit Menschenmassen freilich nicht. Auch Leo geht, wie sein Vorgänger, freundlich auf die Gläubigen zu und zeigt sich authentisch in seiner Art, Nähe zu signalisieren. Begegnungen wie ein Mittagessen mit Armen stehen dabei in Kontinuität mit Franziskus, dem diese Anliegen besonders wichtig waren. Dass auch Leo Humor hat, zeigte er beim ersten Treffen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Römischen Kurie, als er trocken bemerkte: "Die Päpste kommen und gehen, aber die Kurie bleibt." Gleichzeitig lobte er sie als Institution, "die das historische Gedächtnis einer Kirche, des Dienstes ihrer Bischöfe, bewahrt und weitergibt".
Einheit der Kirche
Sicher ist: Leo hat erkennen lassen, dass er den kollegial-beratenden Leitungsstil von Franziskus fortführen will und diesen ernst nimmt – und ihn auch praktisch anwendet. In den ersten Monaten seit seiner Wahl sprach er mit zahlreichen Mitarbeitern der Römischen Kurie, ebenso mit den vorerst bestätigten Leitern der Dikasterien – darunter Kardinal Fernandez, der bereits mehr als sechs Mal in Audienz beim Papst war. Ob Franziskus' enger Vertrauter weiterhin das Glaubensdikasterium leiten wird, ist offen. Gewiss ist jedoch, dass Leo, der erste Augustiner auf dem Stuhl Petri, der zuvor zwei Jahre lang das vatikanische Bischofsdikasterium leitete und damit Kurienerfahrung gesammelt hat, seine Entscheidungen in Ruhe und mit Bedacht treffen will – zum einen, um die Einheit der Kirche zu fördern, zum anderen, um die von seinem Vorgänger angestoßenen Reformen konsequent weiterzuführen und umzusetzen.
Doch bis dahin scheint er sich erst mit dem von den Kardinälen im Vorkonklave erhaltenen Auftrag, die Einheit der Kirche zu stärken und entstandene Risse zu schließen, zu beschäftigen. In seiner Antrittspredigt am 18. Mai auf dem Petersplatz betonte er den Wunsch nach einer geeinten Kirche und formulierte dies als Programm: "Ich würde mir wünschen, dass dies unser erstes großes Verlangen ist: eine geeinte Kirche, als Zeichen der Einheit und der Gemeinschaft, die zum Ferment einer versöhnten Welt wird." Auch wenn sich die Berichterstattung in den internationalen Medien deutlich reduziert hat, wird die Presse mit Sicherheit auch weiterhin den Papst beobachten - vor allem aber die weiteren Reformbemühungen.
