92-jähriger Pfarrer: Ich wäre gerne Vater geworden

"Vater wäre ich schon gerne geworden", gibt Sigisbert Schwind zu. Doch das war für ihn als katholischen Priester wegen des Zölibats nicht möglich. Über 40 Jahre lang war er als Pfarrer im Dienst der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Wenn Schwind heute auf sein Leben zurückblickt, bereut er es nicht, auf eine eigene Familie verzichtet zu haben. Seine Familie, das waren für ihn die Menschen in den Kirchengemeinden, in denen er gearbeitet hat, und vor allem seine Schwester Edeltraud. Sie hat ihren Beruf als medizinisch-technische Assistentin aufgegeben, um mit ihrem Bruder zusammen im Pfarrhaus zu wohnen, für ihn zu kochen und sich um den Haushalt zu kümmern. Dafür war "ich meiner Schwester immer sehr dankbar", sagt Sigisbert Schwind. "Wir haben uns einfach gut verstanden." Seine Schwester sei ein gläubiger Mensch gewesen. Jeden Abend hat sie mit ihm die Komplet gebetet und werktags war sie oft mit in der Messe. Außerdem hat sie sich vielfältig in die Kirchengemeinde eingebracht, war Lektorin, Kommunionhelferin und brachte kranken Menschen die Kommunion. "Sie hat es mir auch immer zurückgemeldet, wenn ich bei der Predigt oder bei der heiligen Messe undeutlich gesprochen habe", erinnert sich Schwind. Vor sieben Jahren ist seine Schwester gestorben, mit 91 Jahren. "Ich darf noch weiterleben", meint der Priester nachdenklich.
In der Stadt Rottenburg am Neckar, wo Sigisbert Schwind heute seinen Ruhestand verbringt, ist er als Kind aufgewachsen. 1932 wurde er geboren und war der jüngste seiner beiden Geschwister. Angeblich soll er bei seiner Taufe so gelacht haben, dass seine Patentante gesagt haben soll, dass er einmal Priester werden würde. "Sie hatte Recht", freut sich der 92-Jährige. Auch seine Eltern waren gläubig: Seine Mutter war jeden Tag in der Messe und "hat für mich gebetet und mitgeholfen, dass ich Pfarrer werde", ist sich Schwind sicher. In seiner Familie gab es "schon so einen Trend, in der Kirche zu arbeiten." Sein Vater war Kirchenstiftungsrat, ein Onkel Priester und es gab einige Ordensleute in der Verwandtschaft.
Als Jugendlicher ministrierte Sigisbert Schwind bei Bischof Joannes Baptista Sproll, der ein Gegner des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg war und deshalb von Parteimitgliedern verfolgt und drangsaliert wurde. "Ich war schon als Kind begeistert von seinem Mut", sagt der 92-Jährige. Bis heute setzt sich der Pfarrer dafür ein, dass dieser Widerstands- und Bekennerbischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart seliggesprochen wird. Schwind selbst wusste schon früh in seinem Leben, dass er Priester werden möchte. Er hat sich als Jugendlicher in Rottenburg für die katholische Jugendbewegung "Quickborn" engagiert, ging später ins Theologenkonvikt nach Rottweil, machte dort sein Abitur und studierte in Tübingen und München katholische Theologie. Als Student wirkte Schwind in einer Hochschulgruppe mit, die begeistert die Schriften des Liturgen und Theologen Romano Guardini las und dessen Vorlesungen hörte. Damals lernte Schwind die geistliche Gemeinschaft der Oratorianer kennen, die schon 1955 die Messe in deutscher Sprache feierte, die erst später durch das Zweite Vatikanische Konzil eingeführt wurde.

Priesterweihe 1958 mit Bischof Carl Joseph Leiprecht: Pfarrer Sigisbert Schwind liegt gemeinsam mit 17 Weihekandidaten am Altarboden des Rottenburger Domes Sankt Martin. Weitere 18 Kurskollegen wurden in der Ulmer Kirche Sankt Michael geweiht.
1958 wurde Sigisbert Schwind im Rottenburger Dom Sankt Martin zum Priester geweiht. "Wir waren 36 Neupriester", blickt er nicht ohne Stolz zurück. Allerdings hatten er und seine Weihekollegen damals gehofft, dass der Zölibat eines Tages freiwillig werden könnte und "wir später vielleicht heiraten dürfen", berichtet der Pfarrer im Ruhestand. Schwind ist überzeugt, dass ein guter Familienvater auch ein guter Pfarrer sein könne. "Beides zusammen geht." In Göppingen habe er zwei verheiratete syrisch-orthodoxe Priester kennen gelernt. "Der eine hatte fünf Kinder, der andere acht", weiß der betagte Seelsorger noch. "Wenn die Gottesdienste feierten, war die Kirche voll mit Familien und Kindern". Für ihn war das "ein gutes Vorbild". Als junger Vikar war Schwind sogar Sekretär und Zeremoniar vom damaligen Rottenburger Weihbischof Wilhelm Sedlmeier und war dadurch viel in der Diözese unterwegs. Später arbeitete er in Stuttgart und Esslingen als Pfarrer und in Göppingen sogar als Dekan und Kreisdekan. Als Leiter der Pfarrei hatte er eine neue Kirche bauen lassen, ebenso Kindergärten und ein Gemeindezentrum. "Ich erlebte aktive und engagierte Kirchengemeinden", fasst Schwind sein Wirken zusammen und ist dankbar, so viele Kinder zur Erstkommunion begleitet und unterschiedliche Gruppen geleitet zu haben. Für sein Wirken wurden ihm in den Städten Esslingen, Göppingen und Rottenburg vom Oberbürgermeister die städtische Bürgermedaille verliehen, berichtet der Seelsorger.
Verheiratete Weihekurskollegen waren weiterhin zu Treffen eingeladen
Heute ist Sigisbert Schwind der Sprecher seines Weihekurses und organisiert zweimal im Jahr deren Treffen. "Es sind nur noch neun von den ehemals 36 Weihekollegen übrig." Vier davon hatten im Lauf der Jahre ihr Priesteramt aufgegeben, geheiratet und Kinder bekommen. Damals hätten die zuständigen Personalverantwortlichen der Diözese Rottenburg-Stuttgart darauf geachtet, dass diese Priester, die aus dem Klerikerstand entlassen wurden, dennoch gute Arbeitsplätze bekamen, um sich und ihre Familien versorgen zu können, berichtet Schwind. Und sie nahmen weiterhin an den Jahrestreffen teil und "haben die anderen mit ihren Erfahrungen bereichert," erinnert sich der 92-jährige Seelsorger. In den letzten Jahren hat er mit seinen Mitbrüdern das Goldene, das Diamantene und das Eiserne Priesterjubiläum gefeiert.
Sigisbert Schwind freut sich, dass er heute noch als Priester wirken kann. Als er 2002 in den Ruhestand ging und damals mit seiner Schwester Edeltraud von seiner letzten Pfarrei in Göppingen nach Rottenburg zog, fragte er den dortigen Dompfarrer gleich, ob er weiterhin Messen halten könne. Bis heute feiert der betagte Seelsorger täglich die Eucharistie in einer der neun Kirchengemeinden in Rottenburg und zusätzlich in zwei Altenheimen. "Gemeindeglieder haben mir einmal gesagt, dass für sie die Sonne aufgeht, wenn ich mit Ministranten in die Kirche einziehe", lacht Schwind. Die Frohe Botschaft, das Evangelium, den Menschen weiterzugeben, das war schon immer sein Herzensanliegen. Nur früher seien die Kirche halt voller gewesen, schwärmt der Priester. Schwind überlege manchmal schon, warum das heute nicht mehr so sei und woran das liegen könne. Der Reformstau der Kirche hätte dazu beigetragen, dass die Menschen nicht mehr so zu ihr aufschauen wie früher, vermutet der Priester. Auch der Missbrauchsskandal schmerze ihn sehr. "Das hat mir weh getan", so der Seelsorger. Die Aufarbeitung und die Entschädigung der Betroffenen ist ihm wichtig.
„Früher war ich für den Zölibat, heute nicht mehr. Da habe ich viel dazu gelernt, weil ich die Einsamkeit im Pfarrhaus bei manchen jungen Vikaren miterlebt habe. Das ist nicht gut.“
Auch würde sich der 92-jährige Priester darüber freuen, wenn eines Tages Frauen zu Diakoninnen geweiht werden könnten. Schwind berichtet, dass er Gemeindereferentinnen und Pastoralreferentinnen erlebt habe, die "besser als manche Priester" predigen würden. Der betagte Seelsorger findet es "engstirnig", wenn Laien in Kirchengemeinden nicht die Predigt halten dürften. Er habe schon in den 1970er Jahren eine Sondererlaubnis vom damaligen Bischof eingeholt, damit sein zweiter Kirchengemeinderatsvorsitzender, der Religionslehrer war, im Gottesdienst predigen konnte. Außerdem ist Schwind für das Modell der "viri probati". So hätten fähige verheiratete Männer eines Tages in der Kirche die Chance, Priester zu werden. Früher war Sigisbert Schwind für den Zölibat, "heute nicht mehr". Da habe er viel dazu gelernt. Auch weil er die Einsamkeit im Pfarrhaus bei manchen jungen Vikaren miterlebt habe. Das sei nicht gut, ergänzt Schwind. Als Priester "soll man selbst entscheiden können, ob man heiraten möchte oder nicht". Der nächste Papst solle das endlich ermöglichen, betont Schwind, das wäre für die Kirche ein großer Gewinn. Wenn Schwind sich heute etwas wünschen könnte, dann das, dass sich junge Menschen wieder für die Kirche begeistern lassen.
Zu Hause pflegt der 92-jährige Schwind einen festen Tagesablauf. Dazu gehört für ihn das tägliche Gebet. Schon morgens läuft der Seelsorger mit dem Brevier in der Hand um sein Haus. Dafür habe er einen eigenen "Gebetsweg" eingerichtet. Zum Frühstück höre er meist einen Gottesdienst aus dem Kölner Dom. Außerdem betreibe er viel Sport und sei regelmäßig mit dem Fahrrad unterwegs. Das alles halte ihn fit und am Leben, sagt Sigisbert Schwind, der am 20. März 93 Jahre alt wird. "Ich sage zu meinem obersten Chef gerne: 'Wenn du willst, dass ich weiterarbeite, musst du mich gesund erhalten’. Und solange Gott mich gesund erhält, arbeite ich weiter." Der 92-Jährige lacht ein "Ade" zum Abschied.